Die Einsamkeit des Langstreckenläufers (GB 1962)

Running’s always been a big thing in our family, especially running away from the police.

Das hört man Colin Smiths Stimme in den ersten Sekunden von The Loneliness of the Long Distance Runner (Die Einsamkeit des Langstreckenläufers) aus dem Off sagen, während die Kamera ihn versunken im Moment der titelgebenden Einsamkeit verfolgt. Dann ein Schnitt und wir sehen Colin auf dem Weg in eine Besserungsanstalt, in Fesseln.

Freiheit oder Verantwortung? Das ist auf den ersten Blick die Frage aller Fragen in Tony Richardsons Klassiker der British New Wave. Im Gegensatz zu Saturday Night and Sunday Morning (ebenfalls nach einem Drehbuch von Alan Sillitoe) geht es nicht um das Leben eines Arbeiters. Colin ist ein Kind der Arbeiterklasse, doch spätestens nach dem Tod seines Vaters verweigert er sich deren Schicksal. Er ist ein drifter. Er weiß, was er nicht will und rebelliert gegen jede Autorität, doch eine klare Entscheidung für eine Alternative kann oder will er nicht fällen. So verbringt er seine Zeit mit kleinen Diebstählen, die von Richardson als Streiche dargestellt und damit marginalisiert werden. Das mögen die Moralisten (a.k.a. Filmkritiker) der frühen 60er verabscheut haben, doch anders nehmen Colin und sein Kumpel Mike ihr Tun nicht wahr.

Immer wieder sehen wir in unvermittelten Flashbacks, wie Colins Mutter ihn auffordert, Geld für die Familie zu verdienen, doch lehnt er jede Verantwortung ab. Er will sich und seinen Vorstellungen treu bleiben, kein Rädchen im Getriebe der konsumversessenen Nachkriegsgesellschaft werden. Eine ironisch überzeichnete Sequenz zeigt die Familie Smith beim Shopping, zusammengeschnitten wie ein Werbespot aus den 50ern, mit passender Musik; eine andere dieselbe Familie beim Bewundern des ersten Fernsehers im eigenen Wohnzimmer. Colin verlässt demonstrativ den Raum.

Widerwille und Unentschiedenheit bringen unseren Antihelden in die Besserungsanstalt, also einem Ort mit einer “ausgeprägten” autoritären Struktur. Der Direktor (Michael Redgrave) erkennt Colins Lauftalent, will seinen eigenen Ehrgeiz befriedigen, indem er Colin in einem Wettkampf mit einer Public School antreten lässt und verspricht ihm die vorzeitige Entlassung im Falle des Sieges. Die Einsamkeit Colins beim Laufen, das ist der Moment der Freiheit von allen Forderungen der Gesellschaft, der Autoritäten, die sein Leben in konventionelle Bahnen lenken wollen. Walter Lassallys innovative, noch immer beeindruckende (Hand-) Kameraarbeit vermittelt uns diesen Zustand, der an Jamie Bells expressive Tänze durch das Arbeiterviertel in Billy Elliot erinnert.

Tom Courtenay trägt als Colin bravourös den Film. Die Geisteshaltung seines widerspenstigen angry young man ist auch heute noch nachvollziehbar. Dieser übernimmt schließlich die Verantwortung gegenüber sich selbst, wenn er triumphierend seine finale (und vielleicht erste bewusste) Entscheidung trifft. Wir lächeln dann mit ihm, auch wenn er seine körperliche gegen seine geistige Freiheit eintauscht. Richardson ist mit The Loneliness of the Long Distance Runner eine beißende Kritik an der konsumorientierten, von Klassenkämpfen zerfressenen, britischen Gesellschaft der frühen 60er Jahre gelungen, deren poetisch-realistischer Stil auch heute überzeugt. Sein Film ist gut gealtert, schließlich ist der Umgang mit Autoritäten, sowie die Bewahrung der eigenen Integrität im Verlauf desselben ein Thema, welches so schnell nicht obsolet sein wird.

Ein Kunstgriff und deutlicher Kommentar ist das main theme, eine Variation der englischen Hymne “Jerusalem“:

Bring me my Bow of Burning Gold:
Bring me my Arrows of Desire
Bring me my Spear: Of Clouds unfold!
Bring me my Chariot of Fire.

I will not cease from Mental Fight,
Nor shall my Sword sleep in my hand
Till we have built Jerusalem
In England’s green & pleasent Land.

[Aus: William Blake: Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke, dtv-Verlag 2000, S. 202]

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