Womit verbringen Filmkritiker, wenn sie nicht gerade im Kino sitzen oder ihrem Beruf nachgehen, am liebsten ihre Zeit? Na Klar, sie machen Listen. Die besten Filme des Jahrzehnts, die besten Filmfiguren, die besten Kostüme von Marlene Dietrich und natürlich die Mutter aller Listen, die besten Filme aller Zeiten, dürfen in keinem Kritikernotizbuch fehlen.
Die Cahiers du Cinema, ihrerseits Mutter und wohl auch selten gesehener Onkel aller Filmzeitschriften, hat sich mal zur Freude aller Cineasten an einer solchen Liste versucht und zum Wohle eines demokratischen Wahlverfahrens ganze 78 Kritiker und Filmhistoriker befragt. Herausgekommen ist eine Zusammenstellung, die alles in allem die Zunft professioneller Listenerstellung nicht revolutionieren, dafür aber dennoch für einige Diskussionen sorgen dürfte.
…Trommelwirbel für die angeblich hundert besten Filme aller Zeiten:
[Zur Diskussion der Liste, bitte nach unten scrollen]
- Citizen Kane – Orson Welles
- The Night of the Hunter – Charles Laughton
- The Rules of the Game (La Règle du jeu) – Jean Renoir
- Sunrise – Friedrich Wilhelm Murnau
- L’Atalante – Jean Vigo
- M – Fritz Lang
- Singin’ in the Rain – Stanley Donen & Gene Kelly
- Vertigo – Alfred Hitchcock
- Children of Paradise (Les Enfants du Paradis) – Marcel Carné
- The Searchers – John Ford
- Greed – Erich von Stroheim
- Rio Bravo – Howard Hawkes
- To Be or Not to Be – Ernst Lubitsch
- Tokyo Story – Yasujiro Ozu
- Contempt (Le Mépris) – Jean-Luc Godard
- Tales of Ugetsu (Ugetsu monogatari) – Kenji Mizoguchi
- City Lights – Charlie Chaplin
- The General – Buster Keaton
- Nosferatu the Vampire – Friedrich Wilhelm Murnau
- The Music Room – Satyajit Ray
- Freaks – Tod Browning
- Johnny Guitar – Nicholas Ray
- The Mother and the Whore (La Maman et la Putain) – Jean Eustache
- The Great Dictator – Charlie Chaplin
- The Leopard (Le Guépard) – Luchino Visconti
- Hiroshima, My Love – Alain Resnais
- The Box of Pandora (Loulou) – Georg Wilhelm Pabst
- North by Northwest – Alfred Hitchcock
- Pickpocket – Robert Bresson
- Golden Helmet (Casque d’or) – Jacques Becker
- The Barefoot Contessa – Joseph Mankiewitz
- Moonfleet – Fritz Lang
- Diamond Earrings (Madame de…) – Max Ophüls
- Pleasure – Max Ophüls
- The Deer Hunter – Michael Cimino
- The Adventure – Michelangelo Antonioni
- Battleship Potemkin – Sergei M. Eisenstein
- Notorious – Alfred Hitchcock
- Ivan the Terrible – Sergei M. Eisenstein
- The Godfather – Francis Ford Coppola
- Touch of Evil – Orson Welles
- The Wind – Victor Sjöström
- 2001: A Space Odyssey – Stanley Kubrick
- Fanny and Alexander – Ingmar Bergman
- The Crowd – King Vidor
- 8 1/2 – Federico Fellini
- La Jetée – Chris Marker
- Pierrot le Fou – Jean-Luc Godard
- Confessions of a Cheat (Le Roman d’un tricheur) – Sacha Guitry
- Amarcord – Federico Fellini
- Beauty and the Beast (La Belle et la Bête) – Jean Cocteau
- Some Like It Hot – Billy Wilder
- Some Came Running – Vincente Minnelli
- Gertrud – Carl Theodor Dreyer
- King Kong – Ernst Shoedsack & Merian J. Cooper
- Laura – Otto Preminger
- The Seven Samurai – Akira Kurosawa
- The 400 Blows – François Truffaut
- La Dolce Vita – Federico Fellini
- The Dead – John Huston
- Trouble in Paradise – Ernst Lubitsch
- It’s a Wonderful Life – Frank Capra
- Monsieur Verdoux – Charlie Chaplin
- The Passion of Joan of Arc – Carl Theodor Dreyer
- À bout de souffle – Jean-Luc Godard
- Apocalypse Now – Francis Ford Coppola
- Barry Lyndon – Stanley Kubrick
- La Grande Illusion – Jean Renoir
- Intolerance – David Wark Griffith
- A Day in the Country (Partie de campagne) – Jean Renoir
- Playtime – Jacques Tati
- Rome, Open City – Roberto Rossellini
- Livia (Senso) – Luchino Visconti
- Modern Times – Charlie Chaplin
- Van Gogh – Maurice Pialat
- An Affair to Remember – Leo McCarey
- Andrei Rublev – Andrei Tarkovsky
- The Scarlet Empress – Joseph von Sternberg
- Sansho the Bailiff – Kenji Mizoguchi
- Talk to Her – Pedro Almodóvar
- The Party – Blake Edwards
- Tabu – Friedrich Wilhelm Murnau
- The Bandwagon – Vincente Minnelli
- A Star Is Born – George Cukor
- Mr. Hulot’s Holiday – Jacques Tati
- America, America – Elia Kazan
- El – Luis Buñuel
- Kiss Me Deadly – Robert Aldrich
- Once Upon a Time in America – Sergio Leone
- Daybreak (Le Jour se lève) – Marcel Carné
- Letter from an Unknown Woman – Max Ophüls
- Lola – Jacques Demy
- Manhattan – Woody Allen
- Mulholland Dr. – David Lynch
- My Night at Maud’s (Ma nuit chez Maud) – Eric Rohmer
- Night and Fog (Nuit et Brouillard) – Alain Resnais
- The Gold Rush – Charlie Chaplin
- Scarface – Howard Hawks
- Bicycle Thieves – Vittorio de Sica
- Napoléon – Abel Gance
Ein paar Anmerkungen, über die man streiten kann:
Die wievielte Liste ist das nun, die Citizen Kane auf Platz eins hievt? Egal, wie sehr Welles’ Film den Platz verdient hat, eine mutigere Entscheidung hätte zumindest für etwas Überraschung gesorgt.
Charles Laughtons Die Nacht des Jägers auf Platz zwei! Ist endlich eine Wiederentdeckung fällig? Wohl kaum, sagt das pessimistisch gestimmte Herz. Dennoch Daumen hoch für die Wahl!
Jean Renoir auf Platz drei… verdammt, die BFI-DVD ist vollkommen überteuert. Bis zur Preissenkung oder deutschen DVD-Veröffentlichung muss das abgenutzte Videoband genügen.
Es folgen die üblichen Verdächtigen, denen man ohne schlechtes Gewissen zustimmen kann.
Chaplin gewinnt knapp vor Keaton. Schade. Das aber ist Geschmackssache, ich geb’s zu.
Ein bisschen Asien wurde auch untergebracht mit Ozu, Mizoguchi und Ray. Auffallend: Es fehlen moderne Regisseure wie Wong Kar-Wai, John Woo, Park Chan-Wook, Takeshi Kitano, Zhang Yimou, Kim Ki-Duk oder Takashi Miike. Zu diesem Grundproblem später mehr.
Die Verachtung (15) (Yay!)
Der Leopard (25) (Yay!)
Panzerkreuzer Potemkin landet relativ weit hinten auf Platz 37, ebenso Der Pate (40), 8½ (46) und Kurosawa (Die Sieben Samurai, 57).
Alfred Hitchcock hat es dreimal auf die Liste verschlagen. Vertigo (8) und Der Unsichtbare Dritte (28) sind nachvollziehbar, Berüchtigt (38) weniger. Wo sind “Psycho”, “Die Vögel” und v.a. “Das Fenster zum Hof”? Zeigt sich hier doch einmal das wagemutige Wesen der Franzosen?
Mit 2001: Odyssee im Weltraum (43) und Barry Lyndon (67) schafft es Stanley Kubrick verdient zweimal auf die Liste. Der vielfach unterschätzte “Barry Lyndon” erfreut besonders, schließlich schreien “Uhrwerk Orange” oder “Full Metal Jacket” penetranter nach Aufmerksamkeit.
Die Scharlachrote Kaiserin von Josef von Sternberg auf Platz 78! Yay!
Wow, ein aktueller Film ist auch zu finden! Pedro Almodovars Sprich mit ihr hat es immerhin auf Platz 80 geschafft. Das kommt ja fast schon der vermissten Revolution gleich. Aber nur fast.
Der Partyschreck mit Peter Sellers hat sich auf Platz 81 in eine Bestenliste geschlichen! Num num!
Und noch ein aktuelles Werk: Mulholland Drive (94) von David Lynch. Sind sie denn noch ganz bei Trost? Da hat sich aber jemand in eine Videothek geschlichen.
Howard Hawks, Vittorio de Sica und Abel Gance schließen diese Top 100 ab und das Fazit lautet: Französische Cineasten scheinen in einer Zeitblase gefangen zu sein. Zumindest die Wahlberechtigten haben sich irgendwann in den Achtziger Jahren den Kinobesuch abgewöhnt, um nur noch ihre alten Cahiers-Ausgaben zu streicheln, heimlich, still und leise in ihrem Kämmerchen, das wahrscheinlich von Asta Nielsen-Plakaten geziert wird.
Glaubt man der Liste, hat das deutsche Kino seit dem Ende der Stummfilmzeit aufgehört zu existieren. Wie kann man sonst das Fehlen von Rainer Werner Fassbinder erklären? Vom Neuen Deutschen Film sei hier gar nicht erst die Rede.
Die Deutschen können sich jedoch noch glücklich schätzen, denn eine andere europäische Nation hat es wesentlich schwerer getroffen. Der tendenzielle Minderwertigkeitskomplex, mit dem die Briten ihre Filmgeschichte betrachten erhält durch diese Liste weitere Nahrung, denn KEIN britischer Film hat es unter die hundert Besten geschafft! Nun könnte man beruhigend mein: Tja, die Iren haben auch keinen. Aber das Argument dürfte niemanden aus der Depression retten.
Wer mit dem britischen Film ausschließlich sozialkritisches Kino verbindet, vergisst, dass David Lean (“Oliver Twist”, “Lawrence von Arabien”) dazu zählt, ebenso wie Carol Reed (“Der Dritte Mann”) und Michael Powell (“Irrtum im Jenseits”, “Peeping Tom”). Dies sind noch die gängigen Regisseure, die internationale Bestenlisten bevölkern.
Die unzähligen französischen Meister, denen stattdessen ein Platz zugestanden wurde, sollten wohl zum Zweifel an der breiten Auswahlbasis des ganzen Vorhabens berechtigen. Die Notwendigkeit der Nennung von Jean Renoir, Marcel Carné oder Alan Resnais sehe ich ein, eine Bestenliste ist ohne Die Spielregel oder Kinder des Olymp einfach unvollständig. Ist aber ein Zugeständnis von zwei oder drei Filmen für diese Regisseure gerecht? Müsste dann nicht auch der große Ingmar Bergman durch mehr als nur einen Film (Fanny und Alexander, 44) vertreten sein? Der offensichtliche Faible der Wähler für klassische Auteurs würde dafür sprechen.
Eine gleichmäßigere Verteilung der Filme pro Regisseur (z.B. nicht mehr als zwei) hätte vielleicht wenigstens dem internationalen Kino der letzten 25 Jahre zum Einzug in die Bestenliste verhelfen können. Das Argument, Filme sollten sich erstmal über Jahrzehnte hinweg bewähren, wird an dieser Stelle abgeschmettert, schließlich hat die Liebe der Wähler für Autorenfilmer aktuellen Filmen von Almodovar und Lynch den Weg in die Liste geebnet.
Ich bin beileibe nicht der Typ Cineast, der Pulp Fiction oder Fight Club in die Top 20 aufnehmen würde, aber wenn selbst Werke von Sam Peckinpah, Martin Scorsese, Robert Altman und Terrence Malick fehlen, verleitet die Auswahl unweigerlich zum Stirnrunzeln. Zugegeben, eine Bestenliste, die zur Abwechslung mal Die Verurteilten übersieht (der absolut nichts auf so einer Liste zu suchen hat) ist ein seltenes Vergnügen. Die fast völlige Ignoranz gegenüber der neueren Filmkunst, geschweige denn der Kinos der Zweiten und Dritten Welt, untermauert jedoch schlussendlich die Unglaubwürdigkeit des ganzen Unterfangens.
Alternativen:
Die Top 100 vom Time Magazine (ungeordnet).
Die Top 100 von Entertainment Weekly.
Empire hat mal eben die 500 (!) besten Filme aller Zeiten wählen lassen.
Die von den Usern gewählte Top 250 der IMDb. Platz eins: “Die Verurteilten”.
Sight and Sound führt alle zehn Jahre einen Top Ten-Poll durch. Die Ergebnisse vom letzten (2002) und allen davor findet man hier.
Bei Britmovie wählen die User tagtäglich die hundert besten britischen Filme aller Zeiten.
Das American Film Institute hat natürlich auch nichts besseres zu tun, als regelmäßig die 100 besten amerikanischen Filme aller Zeiten zu wählen.