Bloggen – das ist nichts anderes als der Aufbau einer virtuellen Identität. Selbst wenn man den korrekten Namen, die eigene Adresse bis hin zum Aszendenten des eigenen Geburtsdatums, also freizügig Informationen über die eigene Person dem weitgehend anonymen Onlinepublikum preisgibt, bleibt der nickname eine von der konkreten Körperlichkeit losgelöste Identität. An deren Konstruktion hat das reale Alter Ego ebenso wie der Gelegenheitsleser und -klicker teil. Im Gegensatz zu anderen Medien, die eine ähnliche Wirkung erzielen, steht das Internet allerdings jedem mitteilungsbedürftigen, nicht sonderlich technikfeindlichen user offen. Second Life, aber auch simple Foren, Chats und Blogs akkumulieren damit das offenkundig moderne Bedürfnis nach der Erfindung eines alternativen Ich. Nicht selten ist die Kompensation der Mängel des alltäglichen Lebens Grund für die Inanspruchnahme des mit Millionen von Parallelidentitäten überfüllten World Wide Webs. Abgesehen vom bloßen Eskapismus, welcher der Netzkultur zuweilen unterstellt wird, bietet sie sich als anarchisch anmutender Sandkasten alternativer Lebensentwürfe geradezu an. Hält das notdürftig zusammengezimmerte Identitätsgerüst den eigenen Ansprüchen nicht mehr Stand, ist schließlich der logout button der mühelose Weg zum Neuanfang.
Für blue_cat und philia ist das Netz die ideale Möglichkeit, sich über ihren Lebensinhalt auszutauschen: Die mysteriöse Sängerin Lily Chou-Chou. Eine Mischung aus Björk und Sinead O’Connor ist sie. Ihre Musikwelt wird im Chat als Äther bezeichnet und tatsächlich eröffnet Regisseur Shunji Iwai (“Yentown”) seinen Film mit einem halluzinatorischem Traumbild, begleitet von der schwebenden Stimme der fiktiven Sängerin: Ein Junge steht mit seinem Discman mitten in einem sattgrünem Reisfeld und lauscht den Liedern seiner Lieblingssängerin, als befände er sich in einem von der ihn umgebenden Welt abgeschirmten Raum. Für Yuichi (Hayato Ichihara) ist dieser Äther das unumgängliche Narkotikum, um sein tagtägliches Leben zu überstehen.
Alles beginnt recht harmlos mit dem neuen Schüler Hoshino (Shugo Oshinari), der auf seiner alten Schule schikaniert wurde und sich nun beim Kendo mit dem introvertierten Yuichi anfreundet. Auf einem Ferientrip nach Okinawa entkommt Hoshino nur knapp dem Tode. Nach diesem einschneidenden Erlebnis wandelt sich der ehemals zurückhaltende Vorzeigeschüler zunehmend zum mitleidlosen Schultyrann, der mit seiner Bande Altersgenossen drangsaliert und auch vor Prostitution und Vergewaltigung nicht zurückschreckt.
Die zunächst reißerisch erscheinende Plot erinnert an andere japanische Jugendfilme, in denen die Teenager in ihrem Verhältnis zur Gewalt wie kleine, psychotische Erwachsene dargestellt werden. Battle Royale ist wohl eines der bekannteren Beispiele dafür. All About Lily Chou-Chou mit japanischen Splatterfilmen zu vergleichen, tut dem Film jedoch Unrecht, auch wenn die Situation der japanischen Gesellschaft wohl für beide Herangehensweisen verantwortlich zeichnet. Im Zentrum von “All About Lily Chou-Chou” steht nicht die Darstellung körperlicher Gewalt und Ausbeutung an sich, sondern deren Auswirkungen auf die Psyche der jungen Protagonisten.
Über eine Zeitspanne von drei Jahren erzählt Iwai von der Freundschaft der beiden Außenseiter, die sich zur eiskalten Repression des einen durch den anderen wandelt. Dabei verfällt er jedoch nicht auf das zu oft gesehene schüchterner – Junge – entwickelt – homoerotische – Abhängigkeitsbeziehung – zu – psychopathischem – Charismatiker – mit – fatalen – Folgen – Schema. Die Ähnlichkeit verbindet Yuichi und Hoshino zunächst. Zwar wirkt letzterer oberflächlich gesehen wie ein gut aussehender Spitzenschüler, dem alles zufliegt. Beide leiden aber ebenso wie scheinbar ein Großteil der japanischen Gesellschaft an einer ausgesprochen erschreckenden Passivität.
Es ist das hilflose Danebenstehen der Eltern- und Lehrergeneration, wenn die pubertierenden Jugendlichen beginnen, verrückt zu spielen. Es ist aber auch die Apathie der gehänselten, malträtierten Opfer, deren einziger Fluchtweg in den oben beschriebenen Äther der Popmusik, des Internets oder gar in den Suizid führt. Die emotionale Isolation schweißt die beiden Freunde zunächst zusammen, bis Hoshinos Verhaltensweise spätestens nach dem Nahtoderlebnis von destruktiven Aktionen dominiert wird. Sich auflehnend gegen einen schikanierenden Mitschüler, findet er Gefallen an der Erniedrigung anderer. Oder ist es nur sein persönlicher Verzweiflungsschrei über die gefühlsentleerte Welt?
Auch Hoshino ist dem Äther der Lily Chou-Chou verfallen, so dass wir versucht sind zu rätseln, ob es sich bei blue_cat und philia um die virtuellen Identitäten der beiden Protagonisten handelt. Die schmucklos gehaltenen Chatzeilen überlagern im Verlauf der 150 Minuten des Films immer wieder die farbenprächtigungen, zutiefst melancholischen Bilder, deren Schönheit hin und wieder fühlbar schmerzt. Zuweilen scheinen unsere Teenagerhelden und -heldinnen mitten in der Verbildlichung des von ihnen ersehnten Äthers zu stehen. Die Unerreichbarkeit desselben im realen Leben lässt den Zuschauer daher ihre seelische Qual unwillkürlich nachfühlen.
In den Chatgesprächen wird einer erzählenden Rahmung gleich die Liebe zu Lily Chou-Chou geteilt und diskutiert, aber auch der eigene Seelenzustand. Für diese Worte gibt es im Alltag keine Hörer. Die fortwärende Spekulation über die körperlichen Alter Egos füttert Iwai durch verschiedene, sich erst bei näherem Hinsehen als Hinweise entpuppende Anhaltspunkte. Von Sichtung zu Sichtung verleitet der Film daher zu neuen Interpretationen genau darüber. Darin liegt eine seiner diversen Stärken.
Das 150 minütige Rätselraten mag für die nicht voll investierte Aufmerksamkeit strapazierend wirken. Gerade wenn Iwai die nicht-lineare Erzählung durch einen Mittelteil ergänzt – der Trip nach Okinawa – der mit seiner Handkameraoptik nicht nur wie ein Urlaubsvideo wirkt, sondern eines sein soll, könnte der ein oder andere Zuschauer nur noch mit einem verwirrten Kopfschütteln reagieren. Im Endeffekt erreicht er jedoch gerade durch seinen Verzicht auf eine konventionelle Narration und einfache Antworten im allgemeinen die gewünschte prägnante Darstellung der Jugend seiner Zeit, ohne dabei den rechthaberischen Zeigefinger zu schwingen.
Wenn virtuelle und reale Welt schließlich einander kreuzen, der ersehnte Äther sich nur als scheinbare Rettung vor der Wirklichkeit erweist, genügt jedenfalls die Erkenntnis, dass Hoshino und Yuicho Inhaber der Netzpersönlichkeiten Philia und blue_cat sein könnten. Mit der Feststellung, dass auch der kaltblütige Hoshino nur einer unter vielen Jugendlichen ist, welche die Unschuld der Kindheit allein aus Filmen kennen, sind wir durchaus gut bedient. Näher als Iwai kommt nämlich kaum ein Regisseur seinen 13- bis 15-jährigen Protagonisten.
Dank der Integration des modernsten Mediums, seiner Grenzen und Möglichkeiten, ohne in eine abgedroschene Cyberpunk-Optik zu verfallen, sowie der Idee Popmusik nicht – wie in unzähligen Coming-of-Age-Filmen – als melancholisches Begleitgedudel, sondern als zentrales Element der Story zu instrumentalisieren, gleitet All About Lily Chou-Chou sanft dem Status eines wegweisenden Beitrages seines Subgenres entgegen. Der großartig verwirrende, äußerst traurige, viel zu lang geratene und dennoch wunderschön tiefsinnige Film ist ein Markstein des neuen Jahrtausends, der erstmal eingeholt werden will.