Ich habe heute La dolce vità (Das Süße Leben) von Fellini zum dritten (oder vierten) Mal gesehen. Beim ersten Mal war ich wohl etwa 16 oder 17 Jahre alt. Er lief an einem Montagabend (wohl 20.45) auf arte. Am nächsten Tag hatte ich früh um 8 Uhr Deutsch-Unterricht. Irgendwie konnte dieser Film mich damals nicht ganz befriedigen. Ich glaube, dass ich damals “Ginger & Fred” schon gesehen hatte: bei dem Film ist natürlich “mehr” los. Es gibt zwar auch keine “Story” im engeren Sinne, aber es gibt mehr “Action” im engeren Sinne. Nun dann… irgendwie hatte ich das Gefühl, bei “La dolce vità” etwas verpasst zu haben. Ich hatte sowohl Recht als auch Unrecht, was das betrifft (dieser Satz ist ja nun mal grammatikalisch ziemlich offen!). Die Trevi-Brunnen-Szene mit Anita Ekberg hatte natürlich sofort etwas Kultverdächtiges. Die Orgie-Szene am Schluss war irgendwie heftig. Aber… die Vater-Episode (denn “La dolce vità hat zwar kein Szenario, besteht aber doch irgendwie aus Episoden) kam mir etwas lang vor. Die erste Episode (mit Anouk Aimée) fand ich irgendwie komplett langweilig. Bei einer Dauer von 167 Minuten (2h 47min) kam mir der Film schon etwas lang vor.
Das zweite Mal (das zweite bewusste Mal, denn irgendwie habe ich das Gefühl, dass die heutige Sitzung die vierte war! Wo ist die anderthalbte geblieben im Gedächtnis?), also das zweite Mal schaute ich den Film kurz nach der Rückkehr aus Voronez. Obwohl ich auf dem absteigenden Ast war in meinem Privatleben (und auch in meinem Studienleben) fühlte ich mich auf dem aufsteigenden Ast (zumindest subjektiv). Der Film kam mir bedeutender vor. Obwohl ich ihn dann im Zug der Ereignisse wieder schnell vergessen habe. Ende Dezember 2009/Anfang Januar 2010 fiel mir irgendwie plötzlich die Schönheit des Soundtracks ein: Nino Rotas wundervolle Musik. Und plötzlich waren damit auch die Bilder des Films oder vielleicht sogar: die Gefühle des Films wieder da! Und heute war es soweit! Fellini hatte angeblich 90h Film belichtet, die er zusammenschneiden musste. Selbst 10h wären wahrscheinlich unerträglich gewesen. 30 bis 50 Minuten mehr hätte der Film aber durchaus ertragen können! Wäre auf 200 bis 220min hinausgelaufen (3h 20min bis 3h 40min). Hätte der Film kürzer sein können: 2h 00min, vielleicht noch 2h 20min? Wer weiß? Aber er braucht Zeit zum Wirken! Zeit zum WIRKEN!
Worum geht es überhaupt in diesem Film? Vereinfacht ausgedrückt: ein Mann führt ein ambivalentes, ja schizophrenes Leben zwischen… ja… zwischen… gut und böse… Ideal und Zynismus… Liebe und Kaltherzigkeit… Kunst und Kommerz… Literatur und Journalismus… Verlobter und Schlampe/Hure (“putana”). Aber ist diese Dichotomie so einfach? Das Leben mit seiner Geliebten/Fiancée gleicht tatsächlich manchmal einer Hölle: eine medikamentensüchtige, Jesus-besessene und EXTREM dominante Frau, die ihn so wie einen Hund liebt, den man an der Leine führt (z. B. zum Gassi gehen). Ist dann im Gegensatz dazu seine Liebe zur “Hure” Maddalena nicht reiner, schöner, ehrlicher? Auch wenn sie ihn letztlich zurückweist… immer wieder… Sei es, weil sie (noch) schläft oder sich mit einem anderen Mann vergnügt. Und seine Beziehung zu Steiner? Marcello (Marcello Mastroianni) schreibt zwar schmierige Klatsch-Kollumchen für “halb-faschistische” Zeitschriften! Gibt seine Ideale als erstklassiger Schriftsteller auf, um besseres, sicheres Geld zu verdienen, und in der Klatschwelt leben zu können. Steiner hingegen hat eine schöne Familie, lebt ein schöngeistiges Leben unter Künstlern, kultiviert sich weiter, wundert sich an den kleinen Dingen des Lebens (sei es seine Tochter oder die Geräusche von Donner und Meer). Zugleich ist er seinem Namen gleich: quasi verSTEINERt. Er fasst kein Fuß im wirklichen Leben, lebt unter abgehobenen Künstlern in einer Welt, die er letztlich nicht beherrschen oder kontrollieren kann (im Atomzeitalter des Kalten Krieges). Ja, die Medaille hat zwei Seiten, und wohin die “dunkle Seite” Steiner bringt, wissen wir ja! Tut also Marcello doch Recht, sich dem völlig dekadenten, müßiggängerischen Leben der Romer Schickeria hinzugeben? Nein!!! NEIN!!!
Insbesondere wenn man sieht, dass er dadurch das engelhafte blonde Mädchen “betrügen” muss. Seine engelhaften Frauen hat M. Scorsese tatsächlich von Fellini. Möglicherweise ist das blonde Mädchen die einzige Frau, die Marcello wirklich betrügt. Er hat ja mit mindestens drei Frauen Beischlaf. Aber (SPOILER) nicht mit Anita Ekberg. Sie spielt (oder ist?) die Personifizierung einer völlig degenerierten, dekadenten, oberflächlichen Medienfigur, die absolut austauschbar wäre: große, schöne, blonde Frau mit großem Busen gibt’s ja genug auf der Welt. Aber sie hat auch etwas vom unschuldigen kleinem blonden Mädchen in der Strand-Trattoria-Szene in der Mitte des Films (und im Epilog). “Siamo tutti sbagliatti.” Wir haben alle Unrecht! La dolce vità macht in seinen Episoden jeglichen Mist zum Ereignis! Darin besteht das Szenario-lose des Films. Auch die Journalisten des Films tun das Gleiche: Eine Frau schluckt zu viele Pillen, ein Fernseh-und-Kino-Star kommt an, ein Literat bringt sich um, der Ehemann einer Schauspielerin schläft in seinem Cabrio ein, zwei Lausekinder spielen einen Streich… all dies wird ganz bewusst von den Journalisten zu Medienereignissen GEMACHT.
Als Mediensatire funktioniert La dolce vità auch ganz gut. Dass sich Papparazzi als Begriff durchgesetzt hat, ist durchaus verdient! Marcello, in diesen ganzen Dingen, bleibt letztlich doch eine sympathische Figur. Eine identifizierbare Figur. Nun ja, zumindest ich als Mann kann mich mit ihm identifizieren. Und ich glaube, mit den etwas tieferen Problemen, die er hat, kann sich jeder und jede identifizieren! Ob sich Marcellos Leben auf dem aufsteigenden oder absteigenden Ast befindet, weiß man doch nicht. Es bleibt ambivalent. Je öfter man diesen Film sieht, umso besser, schöner und wunderbarer wird er! Egal, ob man selbst auf dem aufsteigenden oder absteigenden Ast sitzt…