Diary of the Dave #12 – Außer Atem

Mein erstes Erlebnis mit Godards großem Meisterwerk (auch wenn er selbst den Film wohl inzwischen hasst) war weder besonders erquicklich, noch besonders lang. Im zarten Alter von zwölf, maximal aber vierzehn Jahren habe ich Außer Atem (im Original: A bout de souffle) bei einer Ausstrahlung beim immer wieder geliebten Sender arte geschaut. „Geschaut“ ist sicherlich viel zu viel gesagt, denn ich habe nach etwa zwanzig Minuten (allerhöchstens!) aufgegeben. Für meine zarten und jugendlichen Augen (die zugegebenermaßen damals noch besser funktionierten als heute) war das ganze einfach zu viel… und gleichermaßen zu wenig. Zu viel Herumgehopse (terminus technicus: jump cut) und zu wenig… Story? … Spannung? … “intelligente” Dialoge? Das zweite Mal sah ich den Film im wohl einzigen Ort der Welt, wo man ihn auch sehen sollte, nämlich im Kino. In meinem Fall im “Mon Ami” in Weimar, damals (2002? 2003?) noch das wirklich führende Programmkino der Stadt. Irgendwie bin ich da nicht nach zwanzig Minuten aus dem Film rausgegangen, vielleicht deshalb, weil ich ihn in Begleitung sah… oder vielleicht war es einfach nur ergötzend, die Phasenverschiebung des Lachens zwischen dem französisch-verstehenden Teil des Publikums (also mir) und dem nicht ganz so französisch-sattelfesten Teil der Anwesenden (also der Mehrheit) zu genießen: die frankophilen lachten manchmal vor und manchmal nachdem der Witz in den Untertiteln gefallen war… oder vielleicht begann der Film einfach, mir zu gefallen…

2007 kam er erneut im bereits genannten Kino. Es war der Frühling 2007 und ein kleiner Giftzwerg aus Neuilly machte sich gerade daran, den Élysée zu erobern. Er sitzt übrigens immer noch dort. Ich hingegen machte mich daran wie üblich die Weltherrschaft zu erobern. Und im Frühling 2007 standen die Chancen dafür sogar ziemlich gut. Wie sich herausstellte, wurde ich dann doch etwas zurückgeworfen, aber ich arbeite trotzdem weiter daran. Irgendwie verbinde ich die Sichtung von A bout de souffle im Frühling 2007 mit der französischen Präsidentschaftskampagne und mit einer komischen WG-Party, auf der lauter komische Leute waren und die ich, glaube ich, erst um sechs Uhr morgens verließ. Vielleicht passierte alles am gleichen Tag? Michel Poiccard wurde auf Pariser Kopfsteinpflaster erschossen, ich schoss mich auf einer zwiespältigen Veranstaltung ab und Nikolaus der Erste wurde zum Kaiser… ich meine Präsidenten Frankreichs bombardiert…

Im Jahre 2008 hätte ich den Film noch einmal mehr im Ami sehen können/sollen/müssen. Aber im Trubel der Dinge, meines Studiums, meines Lebens, meiner Gier nach Weltherrschaft war mir das Kinoprogramm etwas zu spät in die Hände gefallen. Was auch fast dieses Mal passiert wäre, hätte ich nicht das Filmplakat im Kino gesehen. 3. Dezember: wahrscheinlich hätte ich das Programm unter normalen Umständen erst am 10. oder am 15. in die Hände bekommen und hätte mich dumm und dämlich geärgert. Mir in den Arsch gebissen. Car… “Après tout, je suis con”!

Ist zum Glück aber nicht passiert. Und so ging ich heute Abend zum ersten Mal bei solchen Temperaturen ins Kino (-12 Grad). Erstaunlich und verwirrend zugleich, dafür dass ich den Film doch mit frühlinghaften Impressionen und ihren entsprechenden Temperaturen verbinde. Und für sechs Euro (Eintritt plus Becks) kam ich in den Genuss, mich in einen der Ami-Sessel niederlassen zu können. Wie gesagt: der Ami ist nicht mehr das, was er früher einmal war. Die schönen Schwarz-Weiß-Poster von Audrey Hepburn und Robert De Niro, die im Kino-Saal an den Wänden hingen, vermisse ich. Die Zusammenführung von Ticket-Kasse und Getränkeverkauf wirkt fast wie eine Überstülpung von Hartz IV auf die Programmkino-Landschaft. Die jiddische Tango-Musik, die den Kinogänger auf den Film einstimmen sollte, war aber durchaus nicht unangenehm. Das Kinoprogramm fing dann so an, wie jedes Kinoprogramm anfangen sollte: mit den Trailern. Zugegeben: für Filme, die bereits vor einem halben Jahr herausgekommen waren oder auch vor vier (nicht nur Jean-Luc Godard, sondern auch Woody Allen hat in diesen Tagen Geburtstag).

Und dann fing es richtig an. Mein allererster Eindruck, den ich bei meiner allerersten Sitzung des Films hatte, wurde nur zum Teil bestätigt: auf keinen Fall zu wenig, auf jeden Fall zu viel… und zwar im positiven Sinne. Mit schlechteren Augen aber einem besseren Verständnis für Film im Allgemeinen genoss ich das, was mir zehn Jahre zuvor verwehrt geblieben war. Der erste relative Ruhepunkt des Films ist die Szene in Patricias Zimmer (wohlgemerkt: nur “relativ”). Bis dahin kann der Film einem durchaus den Eindruck vermitteln, dass man zum ersten Mal in seinem Leben einen Kinofilm sieht. Die Schnitte, die berühmten jump cuts, die teils verwirrende Verwendung der Filmmusik, gekoppelt, man möchte sagen verzahnt, mit Dialogen und vor allem Monologen, die so bedeutungsschwanger und sinnfrei zugleich sind… und die Posen Belmondos, die zwischen extremer Künstlichkeit und völliger Natürlichkeit schwanken.

Die Ambivalenz zwischen einem schroffen Realismus, und einer teils bis zur Absurdität geführten Künstlichkeit durchzieht den ganzen Film. Der Realismus wird am deutlichsten an den Straßenszenen mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg, weil da immer so zahlreiche Passanten in die Kamera reinschauen: wie Godard Raoul Coutard auf einem Rollstuhl durch die Straßen schob, war sicher einen Hingucker wert. Die extreme Künstlichkeit erreicht ihren Höhepunkt in dem Interview am Flughafen Orly mit dem rumänisch-stämmigen Schriftsteller, gespielt von Jean-Pierre Melville! Endlos cool mit seiner Sonnenbrille und seinen bizarren Antworten auf meist auch bizarre Fragen. “Devenir immortel, et puis mourir!”

Da heute ganze sechs Zuschauer den Film schauten, von denen wohl nur zwei aufmerksam waren (ich zähl mich mal dazu), war die Phasenverschiebung der Lacher nicht ganz so spaßig wie bei den letzten beiden Sitzungen. Nichtsdestotrotz war es wieder einmal sehr schön, den Film zu sehen, wenngleich in einer Laserdisc-Aufführung: das Bild ist dabei sicher klarer, aber es fehlte der Charme verschlissener Filmrollen.

Zurück bleiben zahlreiche Bilder, die kaum aufzuzählen sind: die Posen Belmondos vor den Kinoaushängen mit Bogart, die “Erwürgung” Patricias, die Straßenlaternen, die angehen und damit die Nacht einleiten, die Kamerafahrten durch Paris, das Treffen Patricias mit ihrem Co-Journalisten in diesem verglasten Restaurant vor den belebten Straßen von Paris, Patricia auf den Rolltreppen, die Auffahrt im Fahrstuhl mit dem unglücklichen Autobesitzer und selbstverständlich die “New York Herald Tribune”-Sequenz. Martial Solals Musik setzt sich ebenfalls für Stunden als Ohrwurm fest, mit dem einen hektischen und dem einen eher romantischen Thema. Die Monologe und manchmal auch Dialoge sind reinste Leckerbissen, insbesondere für jeden Menschen, der französisch zur Genüge versteht. Denn auch darum geht es in dem Film: um sprachliche Kommunikationsprobleme. Und so kann Patricia am Schluss nur instinktiv erahnen, als was sie Michel Poiccard bezeichnet hat.

Warum sich ein Vergleich mit “Taxi Driver”, “Goodfellas”, “El Mariachi”, und “Inglorious Basterds” anbieten würde, liegt selbstverständlich auf der Hand. Nur dass “A bout de souffle” diesen Filmen mindestens sechzehn Jahre voraus war.

Nach der Illusion, den ersten Kinofilm meines Lebens gesehen zu haben, watete ich durch die vom Schnee nicht befreiten Bürgersteige und Straßen nach Hause. Und bevor ich es vergesse: joyeux anniversaire, cher Jean-Luc!

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