Pariser Vorhölle – Am Rande der Nacht (F 1983)

Das Fegefeuer ist ein Ort, der den reuigen Sünder auf den Himmel vorbreitet. Dort werden Menschen mit Feuer von  ihren Sünden reingewaschen. Diese vulgär(christlich)e Vorstellung von Gerechtigkeit und Unbeflecktheit sieht aber tendenziell einen positiven Ort vor sich … einen Ort masochistischer Hoffnung. Körperliche Qual als Hintertür zur Reinheit des Himmels. Als Sinnbild ist das Fegefeuer aber deutlich negativer besetzt. Es beschreibt ein mit seelischen Qualen durchs Leben taumelndes Individuum, das ignorant gegenüber den eigenen Sünden dahinlebt. Wie blind schlägt es auf sich oder seine Umwelt ein, um sich zu heilen. Doch das grundsätzliche Leiden wird so nur vergrößert.

Lambert (Coluche) befindet sich in diesem Fegefeuer. Nacht für Nacht sitzt er in einer heruntergekommenen Tankstelle in Paris. Er hat keine Freunde und keine Freude. Bestenfalls arbeitet er lustlos und toastet sich ab und zu etwas zu essen. Ansonsten ist sein Zustand mit vegetieren am besten beschrieben, denn biologisch ist er vielleicht noch am Leben, aber innerlich ist er tot. Seine Existenz ist nur noch die selbstauferlegte Strafe für seine Vergangenheit. Wissen tut er dies wahrscheinlich nicht.

Coluche, der 2-3 Jahre zuvor in einer aufreibenden Schlammschlacht um das französische Präsidentenamt genug Inspiration bezüglich Depression und Desillusion sammeln konnte, ist Lambert. Angsteinflößend wischt er jede Grenze zwischen sich und der Figur hinweg. Wer den französischer Komiker nur als Sohn von Louis de Funès in Brust oder Keule kennt, wird ihn kaum wiedererkennen. Sein Äußeres geht mit den ständig feuchten Straßen und dem Dreck in diesem unheimlichen Paris eine allumfassende Symbiose ein. Ein riesiger Sumpf umgibt ihn, der ihm keinen Ausweg bietet und Tchao Pantin (Am Rande der Nacht) ist dieser Sumpf, der aus seinem Inneren ausgeht und alles in sich aufsaugt. Schon die schmierige Frisur und die hängenden Mundwinkel sind bar jeder Hoffnung. Wer Coluche/Lambert ins Gesicht schaut, blickt in einen gespenstigen Abgrund absoluter Resignation.

Dem jungen Araber Bensoussan (Richard Anconina) geht es ähnlich. Er ist verloren in seiner Welt und überspielt dies mit Rüpeleien und Darbietungen von dreister Selbstüberschätzung. Er schlägt sich als Drogendealer durch, stellt sich aber mehr oder weniger bewusst immer wieder selbst ein Bein. Er ist agiler als der Tankwart, doch der Mittelfinger, den er seiner Umgebung entgegenstreckt, ist nicht am Leben interessiert, sondern am selbstzerstörerischen Kampf um Anerkennung. Er macht sich lieber jeden zum Feind, als von seinem Lebensweg zurückzutreten.

Beide freunden sich an, als Lambert Bensoussan eines Nachts Unterschlupf vor der Polizei gewährt. Doch sie werden nicht ziemlich beste Freunde, sondern verlangsamen nur ihr Ertrinken. Das bisschen zwischenmenschliche Wärme zwischen ihnen ist nur ein hauchdünner Ast, der in dem Moment bricht, als Bensoussan vor der Tankstelle ermordet wird. Lambert geht daraufhin auf einen Rachefeldzug gegen das Drogenkartell, welches seinen Freund umbringen ließ. Aber auch gegen sich. Er fängt wieder an zu handeln, aber das Fegefeuer in ihm bleibt bestehen und frisst ihn langsam auf.

Regisseur Claude Berri, der 1967 mit Der alte Mann und das Kind (Le vieil homme et l’enfant) einen der klassischen Wohlfühl-unterschiedliche-Freunde-Filme drehte, lässt sich hier niemanden wohlfühlen. Selten einmal herrscht Tag in einem zersprengten Moloch, in der jeder auf sich gestellt um sein Überleben, um seine geistige Gesundheit kämpft. Coluche/Lambert hat anscheinend ganz Paris an der Seele gepackt. Die Kälte am Rande dieser Pariser Nacht lässt die Menschen verwildern, denn nur das allumfassende Fegefeuer ermöglicht ihnen zu leben. Tchao Pantin ist aber nicht rasend wie seine Figuren. Ruhig beobachtet er, gibt allen ihren Raum und lässt Paris flirren. Mit zurückhaltender Betörung zieht er den Zuschauer in seinen Bann und reißt sie mitten in den Morast.

Gegen Ende erfahren wir Lamberts Vorgeschichte. Claude Berri schafft es damit beinahe den ganzen Film durchzupsychologisieren. Fast erstickt er damit alle Figuren in rationalen Erklärungen über die Hauptfigur. Sie verlieren ihre Eigenständigkeit und ihr Leben und sind fast nur noch Teile eines hölzernen Plots. Nur Lola (Agnès Soral), eine Punkerin, die Bensoussan kurz vor seinem Tod kennenlernt und Lambert seltsam ambivalent bei seiner Rache unterstützt, bleibt nicht zu fassen. Sie erhält Tchao Pantins Widersprüchlichkeit. Das Zentrum der Nacht ist klar, nur was sich am Rande abspielt, wird immer ein Rätsel bleiben.

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