Bis zum Ende der Abrechnung – Anonymus (GB/D 2011)

Die Frage des neuen Roland Emmerich Films Anonymus ragt schon von den Filmplakat herab: „War Shakespeare ein Betrüger?“ Der Film beginnt auf der Bühne eines kontemporären New Yorker Theaters, auf der ein Schauspieler eben diese Frage in den Raum stellt. Er wird dabei selten aus der Sicht des Zuschauerraums gezeigt. Die Bilder bleiben zumeist hinter den Kulissen. Die Entmystifizierung einer Legende wird von großer Hand vorbereitet. Doch der erwähnte Schauspieler gibt es bereits preis, als die Aufführung beginnt. Es ist nur eine (mögliche) Geschichte, die wir zu sehen bekommen. Wer hat beim guten Roland Emmerich auch historisch genaue Untersuchungen erwartet? Er und sein Drehbuchautor John Orloff ordnen alle Figuren der Dramaturgie unter, weshalb der Zuschauer nach Anonymus auch nur unwesentlich besser über das Thema informiert ist, aber dafür einen äußerst spannenden Film gesehen hat.

Der „wahre“ Shakespeare, den Anonymus präsentiert, ist Edward de Vere (Rhys Ifans), der Earl von Oxford. Für ihn als englischen Edelmann, noch dazu in einer puritanischen Zeit, ziemt es sich nicht, Stücke und Poesie zu schreiben. Doch beim nahenden Tod Elizabeth I. brechen Streitigkeiten um die Erbfolge aus und er sieht sich verpflichtet einzugreifen. Er engagiert ein Stand-In, der unter dem eigenen Namen die Stücke de Veres veröffentlicht und aufführt. Das Theater wird nun selbst zur Bühne, in der die Massen manipuliert und mitgerissen werden. Denn das eigentliche Sujet ist die Macht des Wortes.

Hierbei leistet Emmerich aber einen zweifachen Offenbarungseid, wenn er Shakespeares Stücke im elisabethanischen England auf die Bühne bringt. Sobald die St. Crispin’s Day-Rede aus “Heinrich V.” inszeniert wird, muss niemand wissen, worum es geht, trotzdem ist es schwer sich der Macht der Szene zu entziehen. Es ist vielleicht die beste Shakespeare-Szene seit Marlon Brando Brutus einen ehrenwerten Mann nannte. Nur zu verständlich erscheint, dass die Zuschauer rasen. Pathos at its best. Das Problem ist aber einerseits, dass Emmerich nur Gut und Böse darstellen kann. Shakespeare schlecht zu finden ist zudem scheinbar eine Unmöglichkeit. Die Sicht von Anonymus auf die Welt ist erschreckend eindimensional, da jeder Zweifel im Keim erstickt wird. Andererseits traut er den Worten doch nicht so sehr. Erst die Special Effects scheinen “Shakespeares” Worten ihre Macht zu verleihen. Erst wenn ein Schauspieler Kunstblut in die erste Reihe spuckt, Regen fällt oder Feuerwerk die Schlachten begleitet, rast der Pöbel vollends und erst dann ist auch de Vere zufrieden. Roland Emmerich kommt eben doch nicht aus seiner Haut.

Als schließlich der aufschneiderische Geck Shakespeare sich als Autor ausgibt, ist das schon eine Nebensache geworden, denn die Intrigen am Hof weiten sich zusehends aus. Nach der ruhigen Einführung der Personen entwickelt sich schnell ein mitreißender Strudel der Geschehnisse. Diese werden über zwei Zeitebenen erzählt, de Veres Heranwachsen und der nahende Tod der Königin, die Emmerich gekonnt verdichtet und die zusehends klar machen, dass die Intrigen schon vor langer Zeit begonnen haben. Eine riesige Verschwörungstheorie baut sich auf. In dem abgeschlossenen Universum von Anonymus hat jeder einen gerissenen Plan und beide Seiten spielen miteinander. Zufall gibt es fast nicht, da hinter jedem Zug einen wissende Hand steckt. Doch die lauernde Lächerlichkeit wird nicht einmal geschrammt. Die Spannung spitzt sich ganz unaffektiert zu. Am Ende steht die Coda als nötige Atempause, Platz der Verarbeitung, der auch leicht verziehen werden kann, dass sie einem Nachspiel gleicht, bei dem der Partner schon eingeschlafen ist.

Zuletzt verlassen die New Yorker Zuschauer auch das Theater ohne in große Euphorie auszubrechen. Roland Emmerich und John Orloff waren realistisch genug (falls sie sich nicht in der Rolle der Verkünder einer ernüchternden Wahrheit gefallen). Sie lassen sich nicht dieselben Beifallsstürme zukommen, wie sie Shakespeare mehrmals entfachte. Ihnen ist klar, dass sie vielleicht einen guten Film geschaffen haben, aber keinen über den in 300 Jahren noch geredet wird.


Zum Weiterlesen:
Die gesammelten Kritiken für Anonymus bei Film-Zeit.de.

DÖS: Atavistisches Tirol – Der verlorene Sohn (D/USA 1934)

Vor Spoilern sei gewarnt! Vorsehen vor Absatz eins (zweite Hälfte) und ab Absatz vier.

Die Alpen, das unbekannte Land. Wer nicht den Vorteil besitzt, aus diesem wunderbaren Landstrich zu stammen oder in ihm zu leben, denkt sofort an Berge, Lederhosen und Bier. Ein Hauch von Rückständigkeit weht durch die Gipfel. Unzählige Heimatfilme und Musikantenstadl haben ihr Nötigstes angerich… dazu beigetragen. Doch sollte jemand auf die glorreiche Idee kommen, ein Remake von Der verlorene Sohn (manchmal auch als “Sonnenwend” vermarktet) zu filmen, sähe er sich außerstande, weiterhin die Alpen als Ort der Geschehnisse des letzten Teil des Films zu nutzen. Die atavistischen Stammesrituale, welche dort abgebildet werden, bieten eher Stoff für einen Klischee geladenen Film über Afrika, aber nicht glaubhafte Bilder über die Mitte Europas, nicht einmal in unseren glühendsten Phantasien über den gottverlassensten Teil der Alpen. Doch Luis Trenker entführt uns in eine fremde Welt, welche die seine ist. Er hat keineswegs einen Film über die Rückständigkeit seiner Heimat gedreht oder ein antiamerikanisches, gar nationalistisches Machwerk, wie ihm von der amerikanischen Militärregierung nach dem Zweiten Weltkrieg vorgeworfen wurde. Er schafft es vielmehr, den plumpen, verherrlichenden Heimatfilm zu dekonstruieren und auf den Trümmern eine trunkene Hymne auf eine Heimat und die glückliche, phantastische Rückkehr in den Schoß der Geborgenheit zu errichten.

Der Film beginnt mit drei Kruzifixen in den Alpen. Ein ausgemergelter Jesus hängt sichtlich gequält vor dem Alpenpanorama. Doch sein Leiden ist die Geborgenheit von Tonio Feuersinger (Luis Trenker). Nicht (nur) Qual stellen sie dar, sondern Heimatgefühl. Deshalb sitzt Tonio mit seiner Geliebten Barbl (Maria Andergast) auch am Fuß eines dieser Kreuze und sie würden gern ihr Leben lang dort sitzen. Wer will es ihnen verdenken? Die gleißenden Bilder der Alpenidylle sind wunderschön. Dunkelheit und starker Wind scheinen undenkbar. Die Menschen verstehen sich und singen fröhliche Lieder. Tonio ist ein strahlender Held, der Skirennen gewinnt und mit jedem befreundet ist. Und wenn Barbls Schönheit zu Rivalitäten führt, werden diese in fröhlichen Raufereien geregelt. Das Tonio neugierig auf die Welt ist, lässt sich nur damit erklären, dass es in seiner Vorstellung überall so sein muss… nur etwas anders.

Doch dann wird er zum Ausrichter des Sonnenwend-Festes zu Frühlingsbeginn bestimmt. “Die Sitten der Väter muss man heilig halten.”, sagt sein Vater und die Sonnenwende stellt sich ein. Die Bilder scheinen plötzlich nicht mehr gastlich, sondern dunkel und windig. Auf einem Bergausflug stirbt sein Freund Jörg und Tonio kommt nur knapp mit dem Leben davon. Die Idylle ist zerstört und er flieht in die USA um dort sein Glück zu finden. Doch was er findet ist die Härte einer anonymen Großstadt. Verloren irrt er durch Bilder, die nur in den seltenen Momenten des Glücks etwas von dem anmutigen Schein seiner Heimat haben. Was sie zeigen, ist Hunger und Kälte … so virtuos, dass der Zuschauer sich auch nach einer Mahlzeit und einer Decke sehnt. Tonio weiß nicht, wo er hin soll. Er ist verloren und ohne Heimat.

Doch er kehrt erst Heim als er sein Glück in der Fremde findet. In den Armen einer amerikanischen Milionärstochter findet er nicht die Geborgenheit der Heimat. Die Sonne wendet sich wieder. Er erreicht sein Heimatdorf überglücklich, aber die Bilder bleiben dunkel. Das Glück ist nicht von dem falschen Schein von früher bestimmt, welcher alle bitteren Gefühle verleugnete. Denn die Heimat war in Wirklichkeit nur Schein und Gefängnis. Die Sitten der Väter scheinen die Menschen ihrer Freiheit zu berauben. Nicht nur, dass ihr Druck die erste Sonnenwende ankündigt, auch sich von ihnen abgewendet zu haben, wird Tonio während seiner Abwesenheit vorgeworfen. Doch all das bleibt dezente Andeutung, die erst durch die zweite Sonnenwende deutlich wird. Waren die Bilder schön, erscheinen sie im Vergleich zum Rausch der Rückkehr leer, langweilig und erdrückend.

Er kommt pünktlich zum Sonnenwend-Fest zurück und landet mitten im besagten atavistischen Maskenfest zu Ehre der Natur. Jeder trägt Kostüme und Holzmasken. Rituale, welche der rationalen, industrialisierten Welt wie Hohn scheinen müssen, geben ihm seine Sicherheit zurück. Voll Euphorie rennt er, wohlwissend wo er sich befindet. „Wer nie fort kommt, kommt nie heim.“, und er kommt heim in eine enthebelte Welt, bestimmt von Ekstase und Rausch. Die Umwelt spiegelt einmal mehr Tonio. Erst mit der kirchlichen Kommunion wird die Euphorie in ein Gefühl der Erhabenheit überführt. Die Sitten sind nicht mehr aufgedrängt, sondern lebensnotwendig. Trenker ist sich dabei sehr bewußt, dass dies nur seine Heimat ist und ein Anderer froh wäre, wenn er in eine Großstadt heimkehrte. Auch die Heimat erscheint nicht als gegebener Ort, sondern muss gefunden werden. Erst die herben Erfahrungen der Fremde machen aus seinem schönen Geburtsort, die lang ersehnte Heimat. Deshalb beendet auch nicht der leidende Christus den Film, sondern eine von innen strahlende Maria.

Luftigkeit & Freude um Elf Uhr Nachts – Pierrot le fou (F 1965)

Es gibt Menschen, die schalten Filme von Godard nach spätestens einer Viertelstunde ab. Pierrot le fou gehört im besonderen Maße dazu, denn schon der Produzent Dino de Laurentiis meinte, dass es kein Film sei. Dabei gibt es viele, sehr viele Gründe ihn zu lieben. Aber im Grunde gibt es einen einzigen: Ferdinand Griffon, der sich selbst nie als Pierrot sieht, aber eben der Verrückte, der Narr ist, der dem Film seinen Namen gibt.

Er ist ein Spinner und Phantast … voller Zärtlichkeit für seine Umwelt. Gänzlich wirr im Kopf überschlagen sich seine Gedanken. Es scheint, als ob er brennt und alles verstehen, alles lesen, alles sehen muss, als ob an den kleinsten Dingen der Welt alles hängt. Doch er ist nicht überdreht. In all seinem Handeln verliert er nie die Ruhe. Belmondos lakonische Gelassenheit, Mitte der 60er Jahre die Definition von Coolness, feiert hier ihren einzig wahren Ausdruck. Gleichzeitig lacht und weint er als Ferdinand und sieht keine Möglichkeit, beides zu trennen. Er ist naiv … in seiner Freude und in seinem Vertrauen. Nie kann er im Hier und Jetzt sein, weil das zu klein für ihn wäre. Schmerz und Heiterkeit zerreißen ihn innerlich und schaffen dort eine Wildnis, ein Abenteuer. Er liebt die hohe Literatur, kann sich aber nicht von seinen Kindercomics trennen. Eine Trennung zwischen Hochkultur und Trash kann es nicht geben. Er eint die Dinge. Deshalb scheint es, als ob er die ganze Welt umarmen möchte und doch bleibt er von ihr entfremdet zurück. Seine Umwelt treibt er in den Wahnsinn mit seinem endlosen Rezitieren aus Büchern, die ihm die Welt bedeuten, die er mit den Menschen teilen möchte. Er möchte mit den Menschen reden, doch er versteht sie nicht, wie sie ihn auch nicht verstehen.

Die Größe von Pierrot le fou liegt schlichtweg darin, dass Godard uns die Welt durch Ferdinand Griffons Augen sehen lässt. Der Blick eines Kindes wird uns zurückgegeben. Der naive Blick auf eine wunderschöne, rätselhafte Welt voller Mythen. Er hat einen Film geschaffen, der nur so vor Irrsinn sprüht, der ein Feuerwerk an unfassbaren Ideen abbrennt, wie sie davor und danach nie wieder zu sehen waren. Die Einsamkeit auf der Party von Ferdinands Frau scheint erdrückend und absurd, da alle nur Werbeslogans von sich geben, doch genau das ist die Realität, die Ferdinand wahrnimmt. Kurzzeitig wird die Handlung in einem repetitiven,  unchronologischen Schnittfeuerwerk zerlegt, weil die Realität, die Gegenwart, das Leben nicht immer regelmäßig sind, sondern auch aus den Angeln gerissen werden können. Besonders wenn man aufhört die Welt nur hinzunehmen.

Das Wichtigste ist aber die Leichtigkeit mit der Godard inszeniert. Die Luftigkeit und Freude mit der Ferdinand die Welt sieht, ist die des Filmes. Nur gegen Ende verliert Pierrot le fou diese Unbeschwertheit, doch nur weil sein Protagonist sie verloren hat. Zurück bleibt ein Film voll Freudentaumel, Lebenslust, tiefer Trauer, Melancholie, Ernsthaftigkeit und Albernheit … oh ja jede Menge göttlicher Albernheit … ein Film voll empfindsamen, fröhlichen Wahnsinn. Alleine die Szene als er vor einem Kornfeld steht und mit diesen wunderbarsten aller Worte fragt, was Marianne wohl denkt, wenn sie sagt: „Es ist schönes Wetter“ … Allein diese Szene gehört zum traurigsten, poetischsten und schönsten was das Kino je hervorgebracht hat.


Dieser Text wurde bereits bei der Aktion Lieblingsfilm auf moviepilot.de veröffentlicht.

Der entrückte Reigen der Hoffnung (Marat/Sade, GB 1967)

Gesang und Tanz sind nicht die ersten Dinge, die gemeinhin mit der französischen Revolution verbunden werden. Doch Regisseur Peter Brook nimmt das Theaterstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade von Peter Weiss und lässt seine Schauspieler singen und tanzen. Ständig brechen Musicaleinlagen in die Handlung ein, wodurch sich die Atmosphäre zu einem beißenden Mitleiden des Zuschauers verdichtet. Musicals sind eruptive Freudentänze. Nicht hier. Denn nicht die Entmachtung der Adligen wird gefeiert, sondern die Hysterie der Figuren, welche immer wieder den Schrecken erleben, der den ständig enttäuschten Hoffnungen folgt.

Wir schreiben den 13. Juli 1808. Napoleon ist Kaiser und auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er hat Frankreich aus den Klauen einer vulgären Revolution befreit und es auf den Weg in ein aufgeklärtes Zeitalter geführt. So möchte es zumindest die offizielle, napoleonische Geschichtsschreibung. Um diese Aufgeklärtheit zu verdeutlichen soll der Marquis de Sade mit seinen Mitinsassen der Heilanstalt Charenton ein Theaterstück aufführen. Als Thema wählt dieser die Ermordung Jean Paul Marats, welcher während der Französischen Revolution als Vorsitzender der Jakobiner Partei und Herausgeber der Zeitschrift “L’ami de peuple” (Der Volksfreund) den Terror durch die Guillotine mit einleitete. An dieser Stelle … mit Start der Aufführung setzt der Film ein und wird die durch Gitter vom Publikum getrennte Bühne nie verlassen. Aus diesem scheinbaren Nachteil macht Brook aber seinen größten Vorteil. Nie verfällt er in die Beliebigkeit einer Theaterverfilmung, obwohl er tatsächlich nur die Aufführung auf einer Bühne abfilmt. Fast immer sind die Wände und Gitter im Bild zu sehen, doch der Ort verliert seinen kargen Realitätsgehalt und wird mit einer vollständigen Welt gefüllt. Einer Welt der Empörung, der Hoffnung und des Verfalls.

Fast schon spielerisch verbinden dabei die Autoren de Sade, Weiss und Brook die verschiedenen Ebenen von Charenton. Jede Minute der Handlung bezieht sich auf die Revolution, die Anstalt, die westliche Welt des Jahres 1967 sowie das hier und jetzt. Der Ruf der Figuren nach Freiheit kann nicht von dem Ruf der Insassen der Heilanstalt, welche sie verkörpern, getrennt werden. So fallen die Darsteller auch immer wieder aus der Rolle und schlafen ein oder werden von ihrem pathologischen Sexualtrieb übermannt. Die Trennung zwischen Rolle und Schauspieler verwischt nicht, sie hat nie bestanden. Bezeichnenderweise wird Marat, vom Verfolgungswahn gehetzt, von einem Paranoiker gespielt. Mit subversiven Witz und atemlosen Schrecken werden die Ebenen des Wahnsinns gebrochen und vereint. Die Frage nach der Gerechtigkeit der Welt stellt de Sade in die Kamera und meint damit die Zuschauer des Stücks und des Films. Niemand steht außen vor und genau daraus gewinnt The Persecution and Assassination of Jean-Paul Marat as Performed by the Inmates of the Asylum at Charenton Under the Direction of the Marquis de Sade seinen mitreißenden Sog.

Zentral auf besagter Bühne steht eine Wanne. In ihr sitzt der an Skrofulose leidende Marat. Er sieht sich von Verrätern der Revolution umgeben, von heimlichen Royalisten, welche die Revolution sabotieren möchten. Die einzige Möglichkeit zur Rettung stellt für ihn das Guillotinieren der Verdächtigen dar. Auf dass durch den Terror eine gerechte Welt ohne Hunger und Not entstehe. Doch die bluttriefende Realität ist uneingeschränkte Paranoia. So kommt die junge Charlotte Corday nach Paris, um Marat zu töten, die Macht der Jakobiner zu brechen und die blutigen Wogen der Revolution zu glätten. Dieser Handlungsstrang bleibt der Einzige, der in Raum und Zeit zu Verorten ist, denn die Darstellung der Revolution dient den beiden Regisseuren, de Sade und Brook, nur um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine gerechte Welt mit entmenschlichter Gewalt erreichbar ist. Die Figuren schreien, weinen, zweifeln, disputieren manisch … alles miteinander und mit dem Publikum. Immer wieder fällt das Stück aus der Rolle. Zensoren unterbrechen, de Sade kürzt oder redet direkt mit dem Publikum. Eines bleibt klar: dass Gitter und Leinwand nur einen marginalen Schutz bieten. In der Arena von Charenton stehen sich somit der grausame Individualismus de Sades und der kollektiven Massenmord Marats gegenüber. Auf einer anderen Ebene sitzt Nietzsche über die kommunistische Utopie Lenins, Trotzkis und Stalins zu Gericht. Vielleicht ringt aber auch die Schönheit menschlicher Gewalt mit der Entmenschlichung dieser zu einem Werkzeug der Erreichung von grenzenloser Gleichheit.

Dass dies nicht zu einem verkopften Diskurs verkommt, ist ein kleines Wunder, erreicht durch Gesang und Tanz. Diese lockern nicht nur die Stimmung auf, sondern geben dem Ruf nach einer besseren Welt seinen perfekten Ausdruck, dem sich niemand entziehen kann. The Persecution and Assassination of Jean-Paul Marat erschafft so ein Panoptikum der Wahnsinnigen und Hoffenden, die sich singend, tanzend und aus der Rolle fallend auf die Suche nach einer gerechten Welt begeben, die sie von Marats Wanne in Charenton aus zu erreichen hoffen. Ihnen zu folgen lohnt sich.


Dieser Text wurde bereits bei der Aktion Lieblingsfilm auf moviepilot.de veröffentlicht.

Der unvermeidliche Abstieg des Ernst Stavro Blofeld

Eine knappe Ansammlung persönlicher Notizen mit einigen Spoilern

Es gibt Filmfiguren, die werden verehrt, weil sie unseren Wünschen entsprechen. Von ihnen geht eine Faszination aus, weil sie unsere Helden und selbst mit ihren Fehlern perfekt sind. Ferdinand Griffon ist ein solcher Held für mich. Dann gibt es Figuren, die uns gerade faszinieren, da wir sie abstoßend finden (bei mir zum Beispiel Jens Albinus) oder weil von ihnen ein anziehender Schrecken ausgeht (Thulsa Doom). Eine meiner liebsten Leinwandpersönlichkeiten ist Ernst Stavro Blofeld, für gewisse Zeit der Erzfeind von James Bond, aber nicht weil er auch nur in einem Film wirklich überzeugen kann, sondern weil meine Vorstellungen von ihm überlebensgroß sind. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass ich ihn über seine Abbilder kennen gelernt habe. Aber schauen wir uns erst einmal die Nummer Eins von S.P.E.C.T.R.E. an.

Blofeld und S.P.E.C.T.R.E. tauchen bei Ian Fleming gerade einmal in drei Büchern auf. Es sind die zu den letzten Romanen der Reihe gehörenden Thunderball, On Her Majesty’s Secret Service und You Only Live Twice. Vorher hatte James Bond oft mit Handlangern der SMERSH zu tun gehabt, dem eigentlich seit 1946 aufgelöstem Nachrichtendienst der UdSSR, doch mit der Entspannungspolitik entschied sich auch Fleming, andere Gegner zu suchen. So ließ er ein globales Verbrechersyndikat auftauchen, welches von einem gewissen Ernst Stavro Blofeld geleitet wurde. „[…]zwei Augen, die tiefen Teichen gleichen, umgeben, »wie die Augen Mussolinis«, von zwei Skleren von sehr klarem Weiß, […] die einen an Puppenaugen denken läßt, auch wegen der schwarzen, seidigen Frauenwimpern […] Der Gesamteindruck ist der der Verstellung, Tyrannei und Grausamkeit ‘auf shakespeareschem Niveau’; er wiegt 120 Kilo.“[i] Am Anfang seiner Karriere arbeitet er in einem polnischen Telegrafenamt und fängt an mit geheimen Informationen zu handeln. Hier liegt der Ausgang von  S.P.E.C.T.R.E., das Syndikat, welches in einigen Verfilmungen den Platz der SMERSH einnehmen sollte (Dr. No, From Russia With Love).

Ian Fleming gibt Blofeld alles mit, was ihm Angst bereitet. Er ist sexuell nicht „normal“ (asexuell), nicht reinrassig (polnischer Vater, griechische Mutter), hat einen Bürstenschnitt und ist von niederer Herkunft. Doch all diese Beschreibungen sind die Krux. Sie machen aus Blofeld einen Bösewicht, der sich nur durch seine Organisation von den anderen Gegenspielern Bonds unterscheidet. Die Filme versuchen, aus ihm etwas Einzigartiges zu machen und nicht nur eine Schreckgestalt für Fleming. Sie reißen ihm die flemingschen Charakteristika vom Gesicht und erschaffen so ein Gespenst (spectre). Er ist nur ein Oberkörper mit einer Katze, ikonografisch simpel und einprägsam und durch das fehlende Gesicht setzt er der Fantasie keine Grenzen, um in totale Paranoia zu verfallen. Er ist sadistisch und hinterhältig selbst zu seinen Mitarbeitern und hat stets einen Knopf parat, der Menschen qualvoll in einen überraschenden Tod stürzen lässt. Sein einziges Charakteristikum ist das verkommene Wesen, das sonst nicht festzumachen ist. Hinter jeder Mauer kann sein Syndikat lauern, welches verschlagen und mächtig genug ist, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der Schrecken hat zwar einen Namen, sonst ist er nur die Heimsuchung der eigenen Fantasie.

Den Produzenten Saltzman und Broccoli kann vorgeworfen werden, dass sie in Man lebt nur zweimal Blofeld ein Gesicht geben ließen und damit seinem Untergang zu einer Witzfigur ausgelöst haben. Doch das eben Beschriebene ist das Bild von Blofeld in meiner Fantasie, denn die Filme haben den Mythos, das Gespenst von Anfang an mit Stücken von Wirklichkeit kontaminiert. Die Ausnahme bleibt James Bond 007 jagt Dr. No. S.P.E.C.T.R.E. wird nur kurz erwähnt und bleibt so für den Zuschauer ein bedrohliches Mysterium. In Liebesgrüße aus Moskau und Feuerball, so geheimnisvoll sie Blofeld auch beginnen aufzubauen, wird das mögliche Mysterium aber schon abgeschwächt. Jedes Mal sitzt er Menschen gegenüber, mit denen er interagiert. Er ist aus Fleisch und Blut und nur dem Zuschauer wird das Gesicht vorenthalten. Dr. Claw oder die Anführer von F.O.W.L., beides deutliche Epigonen von Blofeld, haben die Lektion gelernt, sie sind nur per Fernsehübertragung zu erreichen und selbst für ihrer Mitarbeiter Phantome. Doch der schlimmste Makel in diesen Filmen ist vor allem die Durchnummerierung der S.P.E.C.T.R.E.-Mitglieder… streng nach Rang und Können. Diese magenverkrampfende Versinnbildlichung von Leistungsdruck, reißt Blofeld aber in einen Malstrom gen Enträtselung. Nachdem Bond die Top Ten getötet hat, kann er kaum gegen den Bodensatz oder gegen eine neue Nummer Zwei kämpfen. Ihm bleibt nur das I-Tüpfelchen.

Donald Pleasence spielt in Man lebt nur zweimal einen beeindruckenden Blofeld. Die Macher gaben sich alle Mühe, dem von ihnen geschaffenen Mythos gerecht zu werden. Doch danach wurde er zu einem überflüssigen Anhängsel. Er wurde das, was die Filme bisher verbargen, denn durch den Beweis seiner Realität wurde er zu einer Witzfigur die sich hinter lächerlichen Jalousien versteckt oder auf Jachten hockt, böses Genie spielt und über Fische philosophiert. Er war kein Phantom mehr, sondern für jeden sichtbar und damit uninteressant, weil verarbeitet, denn Angst verbreitet nur das Unbekannte.

Im Geheimdienst ihrer Majestät und Diamantenfieber versuchen auch kaum zu verstecken wie wenig Mühe sie sich mit der Figur geben. Telly Savalas spielt ohne Narbe und wühlt im Dreck der Wirklichkeit, sprich: er jagt Bond auf Skiern und mit Schnellfeuerwaffe hinterher und prügelt sich gar mit ihm. Eine Katze ist nirgends zu sehen. Und warum erkennen sie sich nicht, sie haben sich doch bereits getroffen? Sein Abgang dient auch nur noch als Sprungbrett für einen Treppenwitz. Diamantenfieber versucht nochmals mit dem einführen von chirurgisch gefertigten Doppelgängern, Blofeld Richtung Fantômas oder Dr. Mabuse zu rücken, aber sichtlich uninspiriert tötet Bond diese einfach. Zurück bleibt ein Feigling (Hatte der nicht mal ne Glatze? Sieht er nicht irgendwie wie Dikko Henderson aus Man lebt nur zweimal aus?), der wieder einmal schon vorm endgültigen Scheitern flieht (darf er doch nicht gefasst werden) und von Bond der Lächerlichkeit preisgegeben wird, da er in seiner U-Boot-Kapsel von Bond am Kran gefangen und hilflos wie von einem Puppenspieler gehandhabt wird. Kläglich verhallen seine Schreie, welche den ihm gebührenden Respekt einfordern. Augenscheinlich hatte er noch nicht erkannt, wie tief er gesunken ist.

Mit dem Auftritt von Roger Moore verschwindet dann auch Blofeld. Zu sehr hatte er sich überlebt. In In tödlicher Mission taucht er nochmal auf, aber nur um kurz zu Beginn von Bond in einen Schornstein geworfen zu werden. Ohne ihm Würde zu geben, wird er abserviert… mit einem herablassenden Klaps auf die Fontanelle wurde er entsorgt. Ich habe ihn über Inspektor Gadget und Darkwing Duck kennen gelernt und träume immer wieder den Traum eines gesichtslosen Schreckgespenstes, dass die Welt in ihren Klauen hält. Wenn ich die Filme sehe, wird mir aber immer wieder klar, dass es dieses nie gegeben hat.


[i] Eco, Umberto: Die erzählerischen Strukturen im Werk Ian Flemmings, in: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte, Frankfurt am Main 1986, S. 273-312, S. 281.