Es war im Sommer 1953, ein alter, starrsinniger, bösartiger Mann mit einem lustigen Schnurrbart war vor kurzem gestorben und ein mingrelischer Funktionär machte sich daran, die Weltherrschaft zu erobern. Oder? Wirklich?
Nein… fangen wir noch einmal neu an: wir befinden uns in einem sibirischen Fischerdorf am Arsch der Sowjetunion im Sommer 1953. Stalin ist seit mehreren Monaten tot. Was seitdem im Kreml vor sich geht, ist der absolute Wahnsinn! Lavrentij Berija präsentierte sich nach dem 5. März 1953 sehr schnell als der neue starke Mann in der UdSSR, unterstützt von Georgij Malenkov, dem Vorsitzenden des Ministerrats. Der Geheimdienstchef Berija, der so viele Verbrechen des Stalin-Regimes nicht nur mitgetragen, sondern mit eiskalter Berechnung auch organisiert hatte (die Hinrichtung von etwa 20.000 polnischen Offizieren, die Deportation ethnischer Minderheiten nach Zentralasien, die kontinuierliche Ausübung des Terrors im Zweiten Weltkrieg, die Leningrader Affäre und vieles mehr), der Stalin seit Anfang der 1930er Jahre so treu gewesen war, vollführte mit einem erstaunlichen Aktionismus zahlreiche spektakuläre Kehrtwenden von der stalinistischen Politik. Er wollte eine Neuausrichtung der Nationalitätenpolitik, er beendete die infame antisemitische Kampagne und die damit verbundene Ärzte-Affäre, er verbot die Folterung von Gefangenen und hob Sondergerichte des Innenministeriums auf. In der Außenpolitik näherte er sich wieder dem titoistischen Jugoslawien an und forderte von den kommunistischen Führungen der DDR und Ungarns eine grundlegende Revision ihrer terroristischen und Zwangspolitik. Mehr noch: Berija war wahrscheinlich bereit, die DDR aufzugeben und für ein wie auch immer geartetes neutrales Deutschland einzustehen. Unklar ist, ob Berija tatsächlich bereit war, die Kolchosen aufzulösen, sprich die stalinistische Zwangskollektivierung rückgängig zu machen. Und natürlich: mit einem Federstrich hat er am 27. März 1953, drei Wochen nach Stalins Tod, die Amnestie von etwa 1,2 Millionen Lagerhäftlingen in die Wege geleitet (sprich etwa die Hälfte aller GULag-Häftlinge) und somit zugleich die Auflösung der stalinistischen Zwangsarbeitslager in die Wege geleitet. Hier setzt sozusagen Der kalte Sommer des Jahres 53 von 1987 ein.
Ein echt trostloses Fischerdorf am gefühlten Arsch des ersten sozialistischen Staates der Welt. Die Ereignisse, die heute eine differenzierte und quellengestützte Historiographie zu erklären und einzuordnen versucht, kommen dort gebündelt und chaotisch an. Stalin ist tot, und der Dorf-Milizionär teilt dem Hafenchef des Dorfes mit, dass nun Berija als Volksfeind verhaftet worden ist. In dieser trüben Bauernhütte, in der Stalinporträts als Anwesenheit sowjetischer Staatsmacht herhalten müssen, betrauert der Milizionär auch die brutale Ermordung eines Frontkameraden (Weltkrieg) durch Kriminelle… Auf jeden Fall Leute, die durch/dank/wegen Berija rausgekommen sind. Ob Berijas Bilder aus der Zeitung tatsächlich zerrissen werden müssen, darüber können sich Hafenchef und Milizionär nicht einig werden. Der reiche Bauer (ich nenn’ ihn seiner Kleidung wegen mal so) des Dorfes hält es auf jeden Fall für nützlich, das zerknitterte Zeitungsbild Berijas aufzubewahren, das der Milizionär in seiner Empörung über die Amnestie der ganzen “Kriminellen” zerknüllt hatte. Als eventuelles Beweisstück gegen den Zerknüller. Lenin wollte ja Kontrolle, Stalin hat dann Misstrauen geschaffen (nicht, dass die Übergänge nicht fließend wären). Was passieren muss, passiert schließlich: Das Dorf wird von einer Horde von amnestierten Kriminellen überfallen. Der reiche Bauer wird als Geisel genommen. Wobei er relativ schnell kooperationsbereit ist, ein Verhaltensmuster, das er wohl im Stalinismus gelernt hat? Die Kriminellen machen sich auf jeden Fall breit, trinken “?ifir” und der jüngste von ihnen macht sich auf der Suche nach dem jungen Dorfmädchen, um sie zu… Dazu später.
Zwei Außenseiter hat das Dorf. Ein Verbannter, der durchaus bereit ist, landwirtschaftliche Tätigkeiten im weitesten Sinne zu tätigen, und ein weiterer Verbannter, der nicht so viel Antrieb hat und lieber den ganzen Tag den See anschaut (Thilo S. würde ihn wahrscheinlich in irgendeiner Art und Weise beschimpfen wollen, aber dieser Vergleich ist müßig: 1953 gab es kein Hartz IV in der Sowjetunion). Diese werden von den Kriminellen beauftragt, den mittlerweile erschossenen Milizionär zu begraben. Der Kriminelle, der sie überwachen soll, passt nicht so richtig auf. Deshalb entkommen die beiden Verbannten in den Wald.
Von da aus starten sie einen Vernichtungsfeldzug gegen die Kriminellen. Der Ältere ist ein Ingenieur (einer von “Stalins Ingenieuren”?), der 1939 verhaftet wurde. Der etwas jüngere, der ein bisschen an Scott Glenn erinnert, war hingegen ein Kommandeur in der Roten Armee (deshalb weiß er natürlich, wie man mit Waffen umgeht). Er ist es schließlich, der einen Kriminellen nach dem anderen auch fertig macht: und zwar durch Erstechen (bei der versuchten Vergewaltigung des mehr oder minder hübschen Dorfmädels), Erschießen und Ertränken, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Der Ingenieur stirbt. Scott Glenn kehrt aber zurück in die Stadt (Moskau? Ist ja egal), um den Verwandten des Ingenieurs dessen Tod mitzuteilen, und schließlich im Trubel der Straße zu verschwinden.
Ehrlich gesagt… was war meine Erwartung an den Film? Durch eine gewisse Beschäftigung mit dem Stalinismus und der Zeit nach dem Stalinismus, ob als “Entstalinisierung”, “Tauwetter” oder “Chruš?ev-Ära” bezeichnet, habe ich im Grunde einen Selbstjustizfilm erwartet in der Art, wie er im Westen in den 1970er Jahren diskutiert wurde (Dirty Harry, Straw Dogs etc.). Also ein Film, in dem Polizei- und Justizorgane scheinbar versagen, so dass ein Held Polizist, Untersuchungsleiter, Richter und Henker gleichzeitig spielen muss und dabei vor Gewalt und der Missachtung von Gesetzen nicht zurückschreckt. Ein Stückchen weit habe ich das auch bekommen mit solchen Sprüchen wie zum Beispiel “Wir müssen Schluss machen mit dem Gesindel!” und dem ambivalenten Zitat “Einfach nur so wird bei uns keiner verbannt!”.
M. Dobson hat deutlich gezeigt, dass die Amnestie von 1953 durchaus nicht mit ungehaltener Freude aufgenommen wurde. Das junge poststalinistische Regime versuchte durch eine Pressekampagne unter den Stichworten “sowjetischer Humanismus” und “sozialistische Gesetzlichkeit” eine Akzeptanz für die breite Amnestie unter den Sowjetbürgern hervorzurufen. Zurück kamen mehrheitlich Aufrufe zur harten und gnadenlosen Bestrafung von “Banditen” und “Hooligans”. Nicht nur sollten sie ins Lager zurückgeschickt werden. Mancher “aufrichtiger” Sowjetbürger schlug sogar Körperverstümmelungen vor, um mit den Kriminellen fertig zu werden. Anders gesagt: das Regime sprach eine “neue Sprache” (Menschlichkeit, Gesetzlichkeit), während die Masse der Bevölkerung noch die “alte Sprache” sprach (Sündenböcke jagen, verhaften und vernichten). Fräulein (oder Frau? egal) M. Dobson geht gekonnt mit ihren Quellen um und steht auch nicht alleine in ihrer Bewertung da. D. Kozlov hat herausgefunden, dass Leserbriefe aus dem Jahre 1956 noch weitestgehend von der stalinistischen Sprache geprägt waren, von der Suche nach Sündenböcken, nach Volksfeinden, nach “Würmern”, “Parasiten” etc., etwa wenn es um korrupte Fabrikdirektoren und Manager ging.
Was hat das mit dem Film Der kalte Sommer des Jahres 1953 zu tun? Der Film würde wahrscheinlich von jedem dahergelaufenen Filmkritiker als Leuchtfackel der “perestrojka” behandelt werden, weil es ja irgendwie um GULag und so geht. Wenn man die Thesen von M. Dobson verarbeitet, dann könnte man fast meinen, dass dieser Film von 1987 eine stalinistische Botschaft mit sich trägt. Im Grunde scheint das Lagersystem ja fast schon richtig und gerecht gewesen zu sein, wenn denn so viele Kriminelle dort saßen. Das scheint der Film ausdrücken zu wollen. Die beiden “Helden” des Films saßen vor ihrer Verbannung auch, werden aber im Film als die große Ausnahme dargestellt, als Leute, die tatsächlich völlig unschuldig waren.
Wer Solženicyn liest wird eine ähnliche Interpretation finden. Denn auch er als sowjetischer Dissident (aufgrund seines Antisemitismus ist er für mich keineswegs eine moralische Instanz) teilt die Häftlinge in Kategorien ein. Kriminelle sind für ihn ein Abschaum, der den “GULag” genauso verdient hat wie alle inhaftierten Kommunisten. Diese Lesart der Lagererfahrung wird übrigens von vielen ehemaligen Dissidenten durchaus geteilt.
Also… Der kalte Sommer des Jahres 1953 als echter “perestrojka”-Film? Eher nicht! Vielmehr widerspiegelt er, nein, er setzt eine Paranoia in Szene, die viele Sowjetbürger im Jahre 1953 angesichts der Amnestien verspürten: die Angst vor Leuten, die irgendwie wohl doch rechtmäßig “saßen”. Die Geschichtsschreibung hat gezeigt, dass Verbrechen amnestierter Häftlinge nicht so massenhaft in Erscheinung traten wie die Denunziationen solcher Verbrechen… Sprich: Diskrepanz zwischen real existierendem und gesellschaftlich gefühltem Verbrechen. Interessanterweise ein großes Problem moderner und “postmoderner” Gesellschaften wie zum Beispiel in Deutschland.
Nun also: guter Film, schlechter Film? Ein stalinistischer Film? Mit einer miserablen Synchronisation und einer fürchterlichen Bildqualität wurde die Sperrigkeit der Inszenierung noch ganz besonders hervorgestrichen. Während bei anderen sowjetischen Filmen die „sperrige“ Inszenierung teils wirklich gelingt, hat Der kalte Sommer des Jahres 53 manchmal schwache, und manchmal auch wirklich starke Momente. Höhepunkt sind die paar Minuten im Wald, als “Scott Glenn” das Mädchen rettet und zwei der Kriminellen nach einer Katz-und-Maus-Jagd erschießt. Actionreich und mit einigen interessanten Bildern und Kameraeinstellungen. Der Oberboss der Kriminellen, der ertränkt wird, sieht übrigens ein bisschen wie der ehemalige NKVD-Chef Genrich Jagoda aus, also dem Vor-Vorgänger Berijas. Also… Scott Glenn, Jagoda, Dorfmädels, Verfolgungsjagden und Shoot-outs… ist immerhin auch etwas.
Berija wurde im Juni 1953 verhaftet und kurze Zeit danach hingerichtet. Seine Nachfolger verfolgten nicht mehr ganz so umfassende Reformpläne wie er. Mit größtenteils halbherzigen (bzw. teils wahrhaftig durchgeknallten und verrückten) Reformen wurstelten sie sich bis in die 1980er Jahre durch. Dann kam der Mann, der Chruš?evs Kurs wieder aufgriff… oder doch etwa Berijas?