Cannes 2011: Wettbewerb & Un Certain Regard

Soeben wurde das Gros der Filme bekanntgegeben, die bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes im und außerhalb des Wettbewerbs laufen.

Das Programm sieht folgendermaßen aus:

IM WETTBEWERB
* The Skin I Live In (dir. Pedro Almodovar)
* L’Apollonide – Souvenirs de la maison close (dir. Bertrand Bonello)
* Hearat Shulayim (Footnote) (dir. Joseph Cedar)
* Pater (dir. Alain Cavalier)
* Bir Zamanlar Anadolu’da (Once Upon a Time in Anatolia) (dir. Nuri Bilge Ceylan)
* Le gamin au vélo (dir. Jean-Pierre and Luc Dardenne)
* Le Havre (dir. Aki Kaurismäki)
* Hanezu no Tsuki (dir. Naomi Kawase)
* Sleeping Beauty (dir. Julia Leigh)
* Polisse (dir. Maïwenn)
* The Tree of Life (dir. Terrence Malick)
* La source des femmes (dir. Radu Mihaileanu)
* Ishimei (Hara-Kiri: Death of a Samurai) (dir. Takashi Miike)
* Habemus Papam (dir. Nanni Moretti)
* We Need to Talk about Kevin (dir. Lynne Ramsay)
* Melancholia (dir. Lars Von Trier)
* Drive (dir. Nicolas Winding Refn)
UN CERTAIN REGARD
* Restless (dir. Gus Van Sant)
* Martha Marcy May Marlene (dir. Sean Durkin)
* The Hunter (dir. Bakur Bakuradze)
* Halt auf freier Strecke (dir. Andreas Dresen)
* Hors Satan (dir. Bruno Dumont)
* Les neiges du Kilimandjaro (dir. Robert Guédiguian)
* Skoonheid (dir. Oliver Hermanus)
* The Day He Arrives (dir. Hong Sang-soo)
* Hong Sangsoo (dir. Cristián Jiménez)
* Tatsumi (dir. Eric Khoo)
* Arirang (dir. Kim Ki-duk)
* Et maintenant on va où? (dir. Nadine Labaki)
* Loverboy (dir. Catalin Mitulescu)
* Yellow Sea (dir. Na Hong-jin)
* Miss Bala (dir. Gerardo Naranjo)
* Trabalhar cansa (Travailler Fatigue) (dir. Juliana Rojas and Marco Dutra)
* L’exercice de l’Etat (dir. Pierre Schoeller)
* Toomelah (dir. Ivan Sen)
* Oslo, August 31st (dir. Joachim Trier)
AUSSER KONKURRENZ

* The Artist (dir. Michel Hazanavicius)
* The Beaver (dir. Jodie Foster)
* Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides (dir. Rob Marshall)
* The Conquest (dir. Xavier Durringer)
* Labrador (dir. Frederikke Aspöck)
* Wu Xia (dir. Peter Chan)

Kontrapunkt: Berlinale 2011

Vom 17. bis 20. Februar weilte ich in Berlin zum größten Publikums-Filmfestival der Welt. Neben den folgenden Kritiken sei Folgendes resümierend notiert:
1.) „Berlinale Shorts“ sind zu 75% gewöhnungsbedürftig, was die Filmauswahl angeht.
2.) Filme nur aufgrund ihres Handlungsortes (Berlin) aufzuführen, ist kein Argument.
3.) Etwas weniger International- und mehr Glamour-Politik würde bei der Filmauswahl nicht schaden.

Rundskop (B 2011)
Bullhead
, Sektion: Panorama

Von einer nichtsnutzigen, ihre Kinder verziehenden Alkoholikerfamilie, die in „Die Beschissenheit der Dinge“ nur Unsinn im Kopf hat, über eine Band in „Ex Drummer“, dessen Mitglieder kranke, abgestumpfte Familienmitglieder daheim haben und perverse sexuelle Veranlagungen aufweisen bis hin zum am Asperger-Syndrom leidenden Online-Rollenspieler in „Ben X“: Menschliche Abgründe und schwelende Ängste sind im belgischen Kino jüngeren Datums keine Seltenheit. So auch nicht in „Rundskop“, hinter dessen spannender Thrillerfassade sich ein tiefgreifendes Psychodrama verbirgt. Viehzüchter Jacky (Matthias Schoenartz) hat nach einer schicksalsträchtigen Auseinandersetzung in seiner Kindheit (welch verstörende Sequenz!) seiner Männlichkeit und mit Hormonen zu kämpfen, die er nicht nur seinen Tieren verabreicht. Mit dem eigenen zum Scheitern verurteilten sexuellen Begehren und den Machenschaften der Hormonmafia konfrontiert, gerät er in einen tödlichen Strudel aus Fleisch, Gewalt und Tod. Einige einen Kult an der Körperlichkeit abfeiernde Nahaufnahmen (auch in Zeitlupe) atmen in dem etwas inhaltsarmen Langfilmdebüt von Videoclip-Regisseur Michael R. Roskam eine archaische visuelle Kraft, welche ebenso wie die schwermütige Streichermusik meist das düstere, jederzeit entfesselbare, aggressive Temperament der Hauptfigur greifbar macht, ab und an jedoch etwas zu bedeutungsschwanger daherkommt. Ein zum Teil verstörend gewalttätiges Spiegelbild männlicher Urgewalt. Intensiv spürbares, physisches Kino in Reinkultur!

Lipstikka (IL/GB 2010)
Odem
, Sektion: Wettbewerb

Dass es nicht unbedingt einen Karriereexodus darstellen muss, wenn man in seiner Jugend in einer peinlichen Erotikklamauk-Reihe schauspielerisch begonnen hat, beweisen Heiner Lauterbach mit diversen „Schulmädchen-Report“-Auftritten und Jonathan Sagall, der in allen acht „Eis am Stiel“-Filmen mitwirkte. In seinem Langfilmdebüt „Kesher Ir“ und auch mit „Lipstikka“ blieb er dem Sujet zwischenmenschlicher Sexualbeziehungen zwar treu – jedoch stets auf dem Niveau einer gewichtigen Auseinandersetzung. Mit geschickt eingesetzten, zahlreichen Rückblenden erzählt er hier die Geschichte zweier palästinensischer Frauen, die in Ramallah zusammen zur Schule gehen, sich anfreunden, ineinander verlieben, sich trennen und schließlich Jahre später in London wieder aufeinander treffen. Doch während die ehemals schüchterne Lara (Clara Khoury) in einer scheinbar glücklichen, aber von Körperlichkeiten freien Ehe liebt, sucht die freimütige Inam (Nataly Attiya) immer noch nach Halt und Sicherheit im Leben. Prägend für beide ist die abweichende Erinnerung an eine Begebenheit in Jerusalem mit zwei israelischen Soldaten während der ersten Intifada. Subtil und leise, aber dennoch aufwühlend und verstörend fernab jeglicher Romantik erzählt Sagall eine traumatische Geschichte, die die Leben der beiden Frauen auf verschiedene Arten zerstörte. Ein schweres Thema und ein Film, der in Israel hitzige Debatten auslöste, aber in ausgeblichenen Bildern unprätentiös umgesetzt.

Life in a Day (USA 2011)
Das Leben in einem Tag
, Sektion: Panorama

Ca. 4600 Stunden von Privatpersonen eingesandtes, selbstgedrehtes Videomaterial wurde für dieses filmische Experiment gesichtet, knapp 90 Minuten davon schafften es in diese Aneinanderreihung kurzer Alltagepisoden verschiedener Menschen am 24. Juli 2010. Ist Regisseur Kevin Macdonald seit „The Last King of Scotland“ schon kein Unbekannter mehr, so sind es Produzent Ridley Scott und die Internetseite YouTube, die als Förderer auftritt, noch viel weniger. Umso weniger verwundert es, dass diese Homevideo-Kompilation nicht nur durch die Einsendungen, sondern auch von außen strukturiert wurde. Professionelle Kamerateams wurden für Zeitraffer von Naturaufnahmen und Statements an die entlegensten und internetfreiesten Winkel der Erde geschickt, drei zu beantwortende Fragen strukturieren den mal thematisch, mal assoziativ montierten Film. Dass suggestive pathetische Musik insbesondere im letzten Teil („Wovor hast du Angst?“) besonders auffällig eingesetzt wird und somit den ohnehin beklemmenden Handyvideos der letztjährigen Loveparade-Katastrophe eine fröstelnd emotionale Dimension hinzufügt, ist dabei jedoch nach dem vorangegangenen Wohlfühlschnipseln ein Glücksfall, was die Bandbreite der Emotionen angeht. Am Ende steht die Erkenntnis einer jungen Frau, dass sich keiner für sie interessiert und dieser Tag kein besonderer war. Diese trotz allem gewagte Dokumentation, die Homevideos und professionelle Aufnahmen nebst Musikuntermalung zu einem authentischen Ganzen formt, ist ein beeindruckendes Web-2.0-Filmdokument.

Darüber hinaus gesehen – kurz notiert:

Bombay Beach (Panorama): Zum Teil in erfrischend-frecher Videoclip-Ästhetik fotografierte Dokumentation über eine Familie an einen aussterbenden, surrealen Ort: einem Wüstensee in Kalifornien. Nicht zuletzt dank der Musik von Bob Dylan einfühlsam und nah dran an den Menschen.
The Forgiveness of Blood (Wettbewerb): Subtiles albanisches Familiendrama um die Wahrung des Kanun (Gewohnheitsrecht) durch einen Jungen, nachdem sein Onkel einen verfeindeten Nachbarn getötet hat. Tradition und Moderne, Eingesperrtsein und Freiheit werden im Verhalten der Kindergeneration dabei unprätentiös gegenübergestellt und kulminieren in einem Ende bar jeder Klischees.
Unknown Identity (Wettbewerb – außer Konkurrenz): Ein Agent mit Gedächtnisverlust (Liam Neeson) wird von den eigenen Reihen durch die Straßen Berlins gehetzt. Die lokale Situierung dieses zutiefst durchschnittlichen Agententhrillers und ein paar Stars, die mitspielen, waren wohl auch die ausschlaggebenden Kriterien dafür, dass das mit filmischen Stolperdrähten gestrafte Werk – Konstruiertheiten en masse; blöde Dialoge, insbesondere von Ex-Stasi-Mann Bruno Ganz – überhaupt laufen durfte.
Coriolanus (Wettbewerb): Ebenso ambitionierte wie durch ausladend lange Dialoge im Theaterstil anstrengende und enorm an dem zuvor durch Handkamera suggeriertem Tempo einbüßende Shakespeare-Verfilmung. Ralph Fiennes kann sein ganzes Können ausspielen, doch hätte er besser daran getan, den Stoff nicht ins Heute zu übertragen, was u. a. angesichts eines moderneren Demokratieverständnisses adäquat einfach nicht so recht funktionieren will.

The Guard (IRL 2011)

The Guard von John Michael McDonagh ist so ein Film, den ein Festival braucht, wie die Luft zum atmen. Gerade bei der Berlinale, die in ihrer 61. Ausgabe voll war von typischen Festivalfilmen (lange Einstellungen, melancholische Stimmung, wortkarge Protagonisten), ist “The Guard” eine höchst erfreuliche Abwechslung von dem, was gemeinhin abwertend (und falsch) als Kunstkino bezeichnet wird. Es ist ein Film, in dem der stämmige Brendan Gleeson mehrmals in seiner skurrilen Unterwäsche zu sehen ist. Das Publikum hat sich bei der Vorführung derart über diese Szenen gefreut, dass man dahinter auch ein geballtes, erleichtertes Aufatmen vermuten könnte nach all dem todernsten Zeug, das sonst in Wettbewerb, Panorama und Forum gezeigt wird.

The Guard ist eine Buddy-Komödie im Geiste des fabelhaften Brügge sehen und sterben, den McDonaghs Bruder Martin inszeniert hatte. Statt der mittelalterlichen Kulisse Brügges dient nun die irische Pampa als Kontrast zu den plappernden Gangstern, die alten Guy Ritchie-Filmen entsprungen zu sein scheinen. Statt des suizidalen Colin Farrell übernimmt der suizidale Brendan Gleeson das Ruder als titelgebender Guard, einem fluchenden Misanthropen mit dem Herz aus Gold. Zu seinem ungleichen Partner wird in diesem Fall mit Don Cheadle der FBI-Agent aus der großen Stadt (und dem großen Land), der recht bald erkennen muss, dass auch der desinteressiert scheinende Dorfpolizist, der allen nur mit beißender Ablehnung begegnet, seine Kompetenzen hat. Wenn diese auch selten sozialer Natur sind. Cheadles Agent erweist sich sehr schnell als ebenbürtig und wird glücklicherweise nicht nur auf WTF-reaction shots reduziert, auch wenn er davon einige zu bewältigen hat.

Doch The Guard ist die Brendan Gleeson-Show, denn mit ihm steht und fällt der Film, was man v.a. dann merkt, wenn er nicht im Bild ist. Beschränkt sich die Krimi-Groteske auf die Dialoge zwischen den Gangstern (u.a. Mark Strong als Mark Strong), wird allzu deutlich, dass die Filme von Quentin Tarantino ihre Spuren in McDonaghs Skript hinterlassen haben. Entzündet sich das Geplänkel  aus den kulturellen Differenzen (Engländer – Iren, Amerikaner – Iren, Iren – Iren), funktionieren die abseitigen Gespräche, denn sie scheinen entkrampft, natürlich.  “The Guard” hätte durchaus zu einem weiteren Guy Ritchie-Klon verkommen können und Guy Ritchie-Klone waren schon vor 10 Jahren langweilig. Brendan Gleeson jedoch hält die Story um einen internationalen Drogenring, der in Irland seine Zelte aufschlägt, am Boden. Er ist sich nicht zu schade für die billigen Lacher (besagte Unterwäsche), brilliert aber insbesondere in Szenen mit Frauen, wie etwa denen mit seiner todkranken Filmmutter. Da zeigt sich dann, dass der Dickhäuter eine unsentimentale, sensible Seite hat, dass er sich seiner Fehler und seiner Natur bewusst ist. Obwohl “The Guard” auf die große Schuld und Sühne-Exploration von “Brügge sehen und sterben” verzichtet, ist die von skurrilen Eigenheiten umringte Hauptfigur in ihrem Kern keinesfalls ein charakterliches Vakuum, wie es in vielen anderen Genrevertretern der Fall ist. Spätestens die Veröffentlichung auf DVD wird den Erstling von John Michael McDonagh zum zitierfähigen Geheimtipp machen, doch die besten Szenen des Films finden auf einer Parkbank und in einem Pub statt. Kein gesprächiger Gangster ist da anwesend, nur ein Sohn und eine Mutter, die sich keine Illusionen über ihr Kind macht. Das reicht.

Visiting Ulli Lommel – The Boogeyman (USA 1980)

Das Exground Filmfest hat dieses Jahr Ulli Lommel seine erste Hommage gewidmet. Eine interessante Wahl. Eine unbequeme Wahl. Es bleibt vor allem nicht klar, ob das Exground damit eine Trash-Schiene bedienen oder Kunst bieten will. Das Programm feiert ihn als Kult-Regisseur. Nur in der Beschreibung von „Daniel, der Zauberer“ gibt es Hinweise auf Verrisse. Trotzdem scheinen sie sich im Klaren zu sein, das sie einen Regisseur eingeladen haben, der das Publikum zu spalten weiß.

Teil dieser Hommage war The Boogeyman, vom Programm groß als stilprägender Film angekündigt: „THE BOOGEYMAN avancierte in den frühen 1980er-Jahren neben HALLOWEEN zum tonangebenden Horrorfilm …“. Dieses Versprechen kann dieser Film aber nicht einhalten, eher unterläuft er alle Qualitätsstandards. Wenn er zum Beispiel eine bedrohliche Atmosphäre aufbauen möchte, macht er sich nicht die Mühe Plot, Bildgestaltung, Schnitt oder gar die total überforderten Schauspieler zu beanspruchen, sondern lässt Synthesizer plakativ brummen. Die Musik ist im Grunde das klägliche Flehen, sich doch bitte jetzt zu gruseln. Weshalb sollte man aber Angst haben? Weil das ernst gemeint ist? Wenn es einmal nicht die Musik ist, sind es fliegende Heugabeln, das Keuchen eines Unsichtbaren oder dämonisch strahlende Spiegelscherben, die im Zuschauer die rationelle Erkenntnis reifen lassen: „Ich soll mich gruseln.“, was das genaue Gegenteil von Psychoterror darstellt. So erschreckt sich die Hauptdarstellerin durch eine Hand, die ihr von hinten auf die Schulter fasst. Die Hand kommt aus dem Off und der Schreck der Figur soll auch der Schreck des Publikums werden, ein klassischer Schock eben. Doch Schnitt, Kamera, Darsteller und Musik sind dermaßen unpräzise, das nur ein ungläubiges Kopfschütteln zurück bleibt. Der einzige Schreck ist der Moment, wenn einem klar wird, dass das Gesehene dazu dienen sollte, einen zu erschrecken. Zudem reißt der unsichtbare Boogeyman den Frauen ständig die Kleider vom Leib, doch dies wirkt nicht wie das bedrohliche Geifern eines Sexmaniacs, sondern wie der Versuch Ulli Lommels etwas nackte Haut zu zeigen.

Auch die Umsetzung der eigentlich soliden Plotidee ist einfach nur kläglich. Ein Junge, Willy, bringt den sadistischen Liebhaber seiner Mutter um, nachdem seine kleine Schwester ihn vom Bett losgeschnitten hat, an welches er gefesselt war. Jahre später hat das inzwischen erwachsene Geschwisterpaar dieses traumatische Erlebnis noch nicht verarbeitet. Willy hat seit seinem Mord kein Wort mehr geredet. Seine Schwester Lacey hat Alpträume und unterbietet die Dialoge eines jeden „Kriechfilms“ (Filme wie „Die Rückkehr der Killerratten“, in denen die Akteure sich durch „bedrohliches“ Ambiente bewegen (kriechen) und größtenteils Offensichtlichkeiten austauschen wie: „Gehen wir dort lang!“ oder „Mach die Tür auf.“), indem sie konsterniert feststellt: für die Alpträume gibt es bestimmt Gründe. Also macht sie sich auf, den Ort der Tat zu besuchen, um sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen. Diese sind aber realer als sie denkt, denn als sie den toten Liebhaber im Schlafzimmerspiegel auf sich zukommen sieht, zerschlägt sie in Panik den Spiegel und befreit damit seinen dämonischen Geist. Der tötet nun willkürlich eingeführte Figuren, da die Familie nicht genug Opfer für den Film bereithält. Was folgt, ist eine inkonsistente Ansammlung von eigenen und abgekupferten („Halloween“ und „Der Exorzist“) Ideen.

Im Gegensatz zum eben Gesagten feiert Hans Schifferle in der epd Film 4/10 Ulli Lommels Kino der Unvollkommenheit als Platz der Magie (dies verdanke ich Alex P., der darauf auf diesem Blog hinwies). „Lommel scheint es niemandem recht zu machen, weder den Feuilletonisten noch den Genrefans, die an seinen amerikanischen Horror- und Exploitation-Movies ausgetüftelte Plots und perfekte Spezialeffekte vermissen.” […] ‘Gerade in den Ungeschicklichkeiten der Begeisterung sollte man nicht eine Karikatur sehen, sondern den jugendlichen Überschwang eines Kinos, das uns teuer sein soll, wo alles dem Ausdruck, der Emotion, der Schärfe eines unbekannten Reflexes oder eines Blickes geopfert ist’, hat einst Jacques Rivette gesagt.“ ((Schifferle, Hans: Ort des Verbrechens und der Magie, in: epd Film 4/10, S. 28.)) Ob es auf seine anderen Filme zutrifft, kann ich nicht sagen, bei „The Boogeyman“ ist das Gesagte der blanke Hohn. Nicht die schlechten Tricks und nicht einmal der suboptimale Plot sind es, die diesen Film so schlecht machen, sondern seine Naivität, sein blinder Glaube, schlecht kopierte Genrekonventionen stünden für Ideen, Emotionen und Schärfe. Schauen wir uns einen ähnlichen Vertreter an: Ed Wood. Seine Filme wollten auch die große Kunst im Schund … und sind dabei kläglich gescheitert. Monsterfilme mit großem moralischem Gehalt sollten es werden, entstanden ist der naive Dilettantismus eines Träumers. Nichts gegen den Dilettantismus eines Träumers, doch „Glen or Glenda“, „Plan 9 from outer space“ oder „The Boogeyman“ werden durch die Träumereien ihrer Erschaffer nicht besser, weil diese mehr von der eigenen künstlerischen Größe träumen und dabei den Stoff der Träume hinten anstellen.

Schifferle argumentiert, dass Lommel absichtlich das Unvollkommene und Überzeichnete wählt. Überzeichnung ist deutlich zu erkennen, aber die Absicht des Unvollkommen? Wenn man keine anderen Lommel-Filme gesehen hat, ist das schwer zu beurteilen. „The Boogeyman“ wirkt aber wie der ernsthafte Versuch einen Horrorfilm zu machen und daran scheitert er völlig. Qualitativ bewegt sich der Film auf derselben Stufe wie ein Schülerprojekt. Neben der Freude des Filmemachens kann er kaum Substanz bieten. Dass es auch anders geht, zeigen Filmemacher wie Edgar G. Ulmer. Dieser zauberte im Korsett billiger B-Produktionen mit schlechten Drehbüchern kleine Meisterwerke wie „Detour“. Auch hier ist das Unvollkommene Programm. Was man Ulmer im Gegensatz zu Lommel aber anmerkt ist etwas Demut und vor allem Talent. Deshalb steht „The Boogeyman“ vor dem Problem, dass er als Genrefilm scheitert, welcher nicht anschaubar ist, selbst wenn man ihm Absicht unterstellt. Doch halt. Es stimmt nämlich nicht, dass Ulli Lommel es niemanden Recht macht. Trash-Fans werden bei diesem Film auf ihre Kosten kommen. Wem es dadurch aber nicht Recht gemacht wird, ist er selbst, denn die einzige Möglichkeit diesen Alptraum eines Filmes zu überstehen, ist zu lachen … und leider werden die Lacher selten auf der Seite von Ulli Lommel sein.

Kontrapunkt: Exground Filmfest 2010

Verstörende Vorfilme, absurdhumorige oder nachdenklich stimmende Hauptfilme: Das ist das Independentfilmfestival aus Wiesbaden, was in diesem Jahr in die 23. Runde geht und noch bis zum 21. November andauert. Eine  Rückschau auf das erste Wochenende (12. und 13. November) des Exground Filmfests, welches die Chefin in einem Festivalbericht schon Revue passieren ließ.

Pyatnitsa. 12 (RUS 2009)

Am vierten Freitag im Monat „muss“ ein Killer (Nikita Vysotskiy) Punkt Mitternacht ein weibliches Opfer töten, um endlich die Jugendliebe wieder zu finden, die ihn als Kind „Rindvieh“ – in Anspielung auf seinen Namen – schimpfte. Ein nicht minder durchgeknallter, besessener Inspektor kommt ihm auf die Schliche. Das ist originell und selbstreferenziell, weil das potenzielle weibliche Opfer um ihr Schicksal weiß und sich ihm bereitwillig hingibt, und der Inspektor weiß, wann und wo der Killer zuschlagen und wie er ihn dingfest machen wird. Immer wieder wartet der absurde Film mit donnernden, auffälligen Übergängen auf und zeigt abwegige Situationen wie einen Sprung vom achten Stock in ein mit Luftballons beladenen LKW. Während das fahrige Ende mit seinen hektisch präsentierten Wendungen in Hinblick auf den trashigen Gaga-Stil von „Pyatnitsa. 12“ in Ordnung geht, fällt jedoch eine gewisse Langatmigkeit aufgrund Ideenmangels und Storyschwächen mit zunehmender Laufzeit negativ auf. Von den mäßigen deutschen Untertiteln der präsentierten Version („Mach dich bequem!“) mal ganz zu schweigen.

Bran Nue Dae (AUS 2009)

Im Jahr 1969 muss der junge Aborigine Willie (Rocky McKenzie) nach einem Sommer mit seiner Geliebten Rosie (Jessica Mauboy) zurück zum weit entfernten Priesterseminar unter die gestrengen Fittiche von Vater Benedictus (großartig skurril-böse: Geoffrey Rush). Dort wagt er den Ausbruch, will in die Heimat und zu Rosie zurückkehren, nichtsahnend, dass sie mittlerweile mit einem Rock’n’Roller angebändelt hat. Lose basierend auf einem populären australischen Musical, kommt dieser ultrasympathische, wenn auch etwas gehaltlose und naive Mix aus Liebesdrama, Road Movie und Musical so frisch und frech daher wie der Aussie-Bruder von „The Darjeeling Limited“ und „Little Miss Sunshine“, woran nicht nur das Haupttransportmittel VW-Bus „schuld“ ist. Wenn am Ende die absurden Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Vater Benedictus, einem deutschen Hippie namens Wolfgang und Willie geklärt werden und der großartige Song „There’s nothing I would rather be, than to be an Aborigine“ angestimmt wird, verlässt man auch in tristen Herbsttagen guter Laune das Kino. Da lacht auch die als Keilriemen zweckentfremdete Giftschlange.

Norteado (MEX/E 2009)

Die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist ein Symbol. Hier das Schwellenland, welches mit ausufernden Drogenkriegen und Armut zu kämpfen hat, dort das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Von demjenigen, der es illegal über die Grenze geschafft hat – erfolgreich oder nicht erfolgreich – ist nur selten wieder etwas zu hören. Tod oder die Abtrennung von den eigenen mexikanischen Wurzeln: die Gründe sind vielfältig. Familienvater und Ehemann Andrés (Harold Torres) ist einer der gescheiterten Glücksritter, was ihn in Tijuana festsitzen lässt. Nach einem ersten misslungenen Versuch, der ihn in der Wüste fast verdursten ließ, plant er einen zweiten. Bis dahin arbeitet er in dem Lebensmittelladen von Ela (Alicia Laguna) und Cata (Sonia Couoh), zwei Frauen, deren Männer ebenfalls die hohen Mauern überquerten – und dann spurlos verschwanden. Rigoberto Pérezcano gelingt es in seinem Spielfilmdebüt eindrucksvoll, eine angespannte Stimmung zwischen Aufbruch ins Ungewisse und Arrangement mit dem Ist-Zustand zu zeichnen. Semidokumentarisch (Handkamera, keine Filmmusik) gelingt ihm ein facettenreicher Einblick in den Alltag in der Grenzstadt, über weite Strecken ernst, erst gegen Ende lässt er etwas Humor zu. Und genau das macht „Norteado“, dieses Einzelschicksal, welches für viele steht, so menschlich, so aktuell, so brisant.

Als Eröffnungsfilm lief übrigens „Life During Wartime“ von „Happiness“-Regisseur Todd Solondz. Eine sehr lesenswerte Kritik des Films und Einordnung in Solondz’ Werk findet sich hier.