481 Seh-Einträge verzeichnet mein Filmtagebuch 2018, was ich leider nicht in irgendein Erkenntnis bringendes Verhältnis setzen kann, da mein Letterboxd-Account lange Zeit brach lag. Einiges davon wird in den Podcasts und Festivalberichten und Jahresendlisten trotzdem untergegangen sein. Oder vielleicht auch nicht. Lassen wir diese Charade. Das einzige Kriterium der folgenden Liste war die Erstsichtung 2018. Es sind auf jeden Fall nicht die schlechtesten, aber auch nicht durchweg die besten Erstsichtungen des vergangenen Jahres. Es sind gute Filme, das muss genügen.
The Sleep Curse (2017)
Schlaf ist überflüssig, glaubt der von Anthony Wong gespielte Wissenschaftler in Herman Yaus The Sleep Curse. Im Schlaf wird denn auch die wache Verdrängung von Geheimnissen und Schuld überwunden. Sie werden offenbar in Rückblenden in die Zeit der japanischen Besatzung, in der Männer sich als Kollaborateure durchschlagen (ebenfalls Anthony Wong) und Frauen als “Trostfrauen” über die Klinge springen lassen. Diese Ausbeutungsdynamik beobachtet Herman Yau in seinem Exploitationfilm ebenso wie allgemeinere Fragen des Umgangs mit der Vergangenheit in der chinesischen Gesellschaft. Damit hat Yau einen zwingenden Nachtrag zu seiner 90er-Trilogie mit Wong als (asozialer) Rächerfigur gedreht (Untold Story, Taxi Hunter, Ebola Syndrome), die sich ebenso in seine “sozial bewussten” Filme wie From the Queen to the Chief Executive, Whispers and Moans und True Women for Sale einreiht. (Anmerkung am Rande: Hier kann man die Dissertation von Herman Yau über politische Zensur im Hongkong-Kino lesen)
Pixote (1980)
In der Pressevorführung von Capernaum, Armutsploitation, die in Cannes dieses Jahr 15 Minuten stehende Ovationen einsammelte, erwachte er wieder: mein Hass auf Fahrraddiebe und seine Nachahmer. Einen Monat später erinnerte mich das brasilianische Jugenddrama Pixote daran, dass das Sujet noch nicht den Film macht. Trotz Leimschnüffelei, Misshandlung im Gefängnis und einer sadistisch blinden Marginalisierung werden die jungen Helden des brasilianischen Dramas nicht ausschließlich als willenloses Gefäß einer wie auch immer gearteten sozialen Agenda ihres Schöpfers geformt. Ihr Leben bietet Volumen genug.
Baahubali: The Beginning und The Conclusion (2015/2017)
RRR lautet der provisorische Titel des nächsten Films von S.S. Rajamouli, über dessen Eega und Baahubali-Doppel ich im Wollmilchcast geschwärmt habe. Ein Reinkarnationsthema soll der Film über eine Freundschaft in den 1930ern haben, der auf einer zweiten Ebene in den 2000er Jahren spielt. Selbst wenn darin niemand singend einen Wasserfall besteigt, kann 2020 nicht schnell genug kommen. Die labt sich in Baahubali an der Anwesenheit der Kamera, sie breitet sich aus, zeigt sich von allen Seiten, biegt sich sogar zurecht für die perfekte Einstellung und manchmal schmunzelt sie uns sogar zu.
Im Fernsehen trauert gerade der schweißige Motivationscoach über seinen dahingeschiedenen Rancor, womit sich mein Lieblingsteil von Return of the Jedi dem Ende neigt. Unterstützt von dieser Pewpew- und Swooshswash-geschwängerten Begleitmusik will ich zum Jahresbeginn kurz auf einige der besten Erstsichtungen 2017 zurückblicken. Beim Wollmilchcast und bei moviepilot habe ich über manche Listenanwärter schon ausführlich gesprochen oder geschrieben, z.B. Nocturama und The Florida Project oder aber Thelma und Dawson City: Frozen Time. Um die Filmauswahl etwas abwechslungsreicher zu gestalten, zählen diesmal weder Produktionsjahre noch Kinostarts. Es könnten noch andere Filme in der Liste stehen. Sie tun es aber nicht. Johnny Guitar (1954)
Warum überhaupt Western schauen, in denen die Frauen über ihren Trauerkleidern keine Revolvergurte tragen? Sterling Hayden schien mir im Vorfeld immer eine seltsame Wahl für den Titelhelden. Johnny Guitar, das klang nach einem schmaleren, sanfteren Darsteller, einem Alan Ladd zum Beispiel. Hayden frisst in meinem Kopf immer Spaghetti mit Fleischbällchen, während er in Uniform auf den atomaren Weltuntergang wartet. Im Kontrast zu Crawfords Vienna geht das Casting auf. Vielleicht sah Johnny mal aus wie ein junger Alan Ladd, eine verflossene Liebe zu Vienna und das Leben als Gunslinger haben indes die Wirkung eines direkten Blicks in den Atompilz – und einer Schüssel Fleischbällchen. Nathan for You: Finding Frances (2017)
Das Staffelfinale von Nathan for You ist kein Film und trotzdem ist Finding Frances die zweitbeste Dokumentation, die ich dieses Jahr gesehen habe. “Serien-Nathan” sucht mit einem Bill Gates-Imitator aus einer früheren Episode nach dessen verflossener Liebe Frances; eine vertane Lebenschance, ein Quell von verpassten Chancen und Urknall eines alternativen Zeitstrahls (der Bill Gates vielleicht nie gestreift hätte). Unterwegs gaukeln sie die Produktion von Mud 2: Never Clean vor (würde ich gucken) und “Nathan” beginnt eine Beziehung zu einer Escort-Dame, die fulminante Krönung des Verwirrspiels, welches Nathan for You zugrunde liegt. Führt “Nathan” diese Beziehung oder auch Nathan? Können wir es überhaupt Beziehung nennen, wenn sie für eine Docu- oder Mockumentary (ja, was denn eigentlich?) vor Kameras durchgespielt wird, einmal abgesehen davon, dass “Serien-Nathan” sie bezahlt und Nathan-Nathan sicher ebenfalls. Nathan Fielder ringt seiner zutiefst awkwarden Serien-Persona eine Melancholie ab, die bei Dumb Starbucks noch nicht abzusehen war. Er ist der derzeit genialste Künstler in der US-Mainstream-Comedy und besitzt einen kanadischen Pass (natürlich). Das Glas Wasser (1960)
Karena Niehoff beschrieb diesen Helmut-Käutner-Film 1960 im Tagesspiegel als “nicht überwältigend erheiternd”, der historische Musikfilm biete “mehr gemäßigte Kultur” als “maßlose Einfälle” und, was soll ich sagen? Manchmal wünsche ich mich in die maßlosen Endfünfziger zurück, in denen die Leute von der allgegenwärtigen lebensweltlichen Ekstase der Adenauer-Jahre derart ergriffen waren, dass sie eine musikalische Dogville-meets-The-Taming-of-the-Shrew-Satire über den britischen Adel des 18. Jahrhunderts mit einem singenden Gustav Gründgens und einer göttlich piepsenden Liselotte Pulver derart unterkühlt hinnehmen konnten. Dem Publikum in Bologna ging es vermutlich ähnlich. Atomic Blonde (2017)
Die ersten Minuten von Atomic Blonde machten mir Angst. Da steckte viel Gepose drin, viel 80er-Konserven-Mucke, viele Hinweise, warum Regisseur David Leitch für Deadpool 2 engagiert wurde. Und wenig Hundebaby-Rache. Nach mehreren Sichtungen habe ich mich mit dem Mangel an warmer Wick-ness in diesem Film versöhnt, es brauchte eine Weile, bis ich das kalte Herz in seiner Mitte akzeptieren konnte. Mehr noch als bei dem eleganten Gun-Fu von John Wick wird die Action in Atomic Blonde am Körper von Lorraine Broughton (Charlize Theron) durchexerziert. Der Kalte Krieg spielt sich in ihren Feilchen, aufgesprungenen Lippen und Blutergüssen ab. Der Schmerz kommt mir im amerikanischen Mainstream-Kino seit einer Weile zu kurz. Man vergleiche die brennende Kälte und und verzerrten Gesichter in Das Imperium schlägt zurück mit Reys Gekeuche im ansonsten fantastischen Die letzten Jedi. Im Actionfilm findet er sich gelegentlich. Das geradezu post-ritchie-eske Gepose in Atomic Blonde ist Überlebensstrategie in mitten dieses Schmerzes. Lorraine meistert ihn mit einer eisigen Methodik. Zum Kaltblüter macht sie das nicht, im Gegenteil. The Story of G.I. Joe (1945)
Robert Mitchum war dieses Jahr posthumer Ehrengast beim Filmfestival Il Cinema Ritrovato in Bologna. Da lief eine unfertige Mitchum-Doku, in der der leidenschaftliche Sänger und sensible Melancholiker zu Wort kam, der in Cape Fear im Trailer bleiben muss. William A. Wellmans Kriegstagebuch kommt diesem wohl auch nicht nahe, aber immerhin näher, als viele der Rollen, mit denen wir Mitchum heute assoziieren. Sie erinnert zudem an John Wayne in The Big Trail, nicht weil die Rollen notwendigerweise etwas gemeinsam haben, sondern weil sie gespielt wurden, bevor die Welt zu wissen glaubte, was eine Mitchum- oder Wayne-Figur ausmacht. Es kam dem Film im übrigen entgegen, dass ich über den Namen Burgess Meredith im Vorspann, der den Erzähler spielt, nicht weiter nachgedacht habe. So stellte ich mir ihn nicht 108 Minuten mit Zylinder und Zigarettenspitze vor. Bright Sunshine In (2017)
Alles was Bastards in viriler Überspanntheit sich ansammelt, dreht in Bright Sunshine In frei. Eine Verzweiflung liegt beiden zugrunde, wenn auch der neue Film von Claire Denis dies unerwarteterweise in einer Komödie einfängt. Man stelle sich eine Rom-Com als verzehrendes Warten auf Godot vor, nur kommt Godot am Ende tatsächlich und er sieht aus wie Gerard Depardieu, verspricht alle Lösungen für die Verzweifelte und quacksalvert stattdessen seine Binsenweisheiten über den Abspann. Sie saugt alles auf. Es bleibt ihr ja nichts anderes übrig. Der Kampf geht weiter. Until They Get Me (1917)
Die Filmwelt wäre um einiges besser dran, wenn sich Regisseure jede Filmminute über Nummer 90 mit einem weiteren Film erarbeiten müssten. Frankieboy Frank Borzage brauchte 1917 nur eine knappe Stunde, dazu einen Mann, eine Schuld, ein Pferd und ein Mädchen. Das feurige Leuchten in den Augen der Borzage-Figuren birgt auch diese Abwandlung von Die Elenden, hätte Victor Hugo die komplette Story auf die bare essentials heruntergekocht – und Javert durch einen Mountie ersetzt. The Trial of Vivienne Ware (1932)
Die William K. Howard-Retro in Bologna hat mich nun nicht überwältigend erheitert (anders als Wellman, Walsh oder Sternberg bei früheren Jahrgängen). Dave Kehrs Begeisterung für Howard lässt sich am besten in The Trial of Vivienne Ware von 1932 nachvollziehen, dem fraglos schnellsten Film, den ich dieses Jahr gesehen habe. Auch der CNN-Sendezentrale zu Zeiten des O.J.-Simpson-Verfahrens würde dieser in jedem Frame reißerische Film den kalten Schweiß auf die mit Dollarscheinen zu trocknende Stirn treiben. Das Gerichtsdrama befindet sich offenbar seit 1932 in kontinuierlicher Regression. Trouble in Paradise (1932)
Die Müll-Gondel in Venedig setzt den Ton dieser ruchlosen Pre-Code-Komödie von Ernst Lubitsch und da sich mir bei der Wiedergabe des diebischen Liebes-Plots voller Hochstaplerei das Gehirn verknotet, belasse ich es mal dabei, dass es im Januar im Arsenal in Berlin eine Lubitsch-Retro gibt, die man unbedingt besuchen sollte. 7th Heaven (1927)
Borzage zum zweiten, diesmal aus einer französischen DVD-Box, ausgehend von dem Vorhaben, nur einen der Filme pro Jahr zu schauen. Die herrisch misshandelnde Schwester von Janet Gaynor wird durch einen leidlich größeren Widersacher abgelöst: den Ersten Weltkrieg. Zwischendrin zwei, die sich in einer Scheinehe finden, kurz bevor nichts weniger als die Weltgeschichte sie auseinanderreist. Was einen Borzage-Helden noch lange nicht unterkriegt, erst recht nicht auf dem irren bis irrealen Heimweg, der alle Regeln des Films, dieser Zeit und vor allem des Krieges aus den Angeln hebt, wofür Borzage angemessen schwindelerregende Bilder findet. The Beguiled (1971)
Die Liebe für Don Siegels Remake von The Killers konnte ich bisher nicht nachvollziehen, zu erhaben scheint mir die Siodmak-Version sowohl formal (eine Plansequenz verwurschtete ich zudem in meiner Magisterarbeit) als auch dank des gehetzten Schweden Burt Lancaster. Nun erfolgt die ausgleichende Gerechtigkeit in Form von Siegels Verfilmung von The Beguiled, die in ihrer konsequenten Zersetzung des guten Anstands in den majestätischen Südstaaten-Villen eindeutig den Vorzug über den verwunschenen Märchenwald von Sofia Coppola erhält. Undisputed III: Redemption (2010)
Der Schmerz mag im amerikanischen Kino fehlen, in den DVD-Regalen trägt er den Namen Scott Adkins bzw. Yuri Boyka. Die Inszenierung der ungeheuer athletischen MMA-Fights in der Undisputed-Reihe tendiert zum langweilig Klaren, womöglich geschult an den weiten Aufnahmen einer Sportsendung, Sie kristallisiert unterdessen die Fähigkeiten der Teilnehmer heraus. Allen voran Adkins, dessen Boyka im zweiten Film als Schurke eingeführt wurde und der in Teil 3 die Rolle des Antihelden übernimmt, ein Geniestreich, der in genau einem Film richtig gut funktioniert (der vierte ist leider im Autopilot). Boyka und sein angebrochenes Knie sind Hitchcocks Bombe unter dem Tisch. Sie allein sorgen bereits für einen brennenden Body Horror im Kopf jedes Mal, wenn jemand Boykas Schienbein zu nahe kommt. Gerald’s Game (2017)
Keiner geht dem Trauma im Horrorfilm derzeit so besessen nach wie Mike Flanagan, ob in Ouija 2, Before I Wake oder nun der Stephen King-Verfilmung Gerald’s Game, die Jessie (Carla Gugino) gefesselt auf ihrem Bett zurücklässt, dem Mondlicht, hungrigen Hunden, Erinnerungen und noch ganz anderem Grausen hilflos ausgesetzt. Für die Auflösung sucht Flanagan einmal mehr eine dezidiert naive Offensichtlichkeit, was den Symbolgehalt angeht (das Finale von Before I Wake wird in dieser Hinsicht nicht getoppt). Damit bleibt er King treu, aber auch dem Primat der Story, der sich nicht in der aufsehenerregenden Peeling-Aktion erschöpft, sondern Jessies Ausbruchsversuch aus dem Zyklus des Missbrauchs folgt, der lange vor diesem fehlgeschlagenen Sexspielchen im Ferienhaus seinen Anfang nahm. Survival Family (2016)
Andere würden aus dem Stromausfall, der die japanische Gesellschaft zurück in vormoderne Zeiten befördert, einen Horrorfilm machen. Survival Family von Shinobu Yaguchi gibt im Filmtitel die muntere Grundstimmung vor. In den ersten Tagen müssen die Überlebenskünstler ohne Schnellzug auf Arbeit radeln, dann auf immer kreativeren Wegen nach Trinkwasser suchen, schließlich die Stadt verlassen, um zur Verwandtschaft am Meer zu gelangen. Heftig gebeutelt wird die Durchschnittsfamilie, ob im reißenden Fluss oder bei der Jagd nach einem entlaufenen Schweinchen. Dem ausschweifenden postapokalyptischen Pessimismus solcher Stories wird sich dabei verweigert, vielmehr das Funktionieren des Familienmoleküls während des Zusammenbruchs des Alltags unters Mikroskop gelegt.
Home From The Hill (1960)
Das Bild des Jahres: Robert Mitchum sitzt erwartungsvoll auf einem blutroten Sessel, umringt von ausgestopften Tierschädeln, Jagdgewehren und Whisky-Flaschen. Davon kann sich Snoke eine innenarchitektonische Scheibe abschneiden. The Battleship Island (2017)
Stahl, Stein und Gischt nagen an den Gefangenen auf der Battleship Island, einem japanischen Arbeitslager und filmische Enzyklopädie der Kriegsverbrechen gegenüber den Koreanern. Sozusagen die Absage an das verzwickte Spionage-Spiel zwischen Widerstand und Kollaborateuren in The Age of Shadows von Kim Jee-woon, lässt sich The Battleship Island als nationalistische Propaganda abwatschen und hat diesen Vorwurf verdient. Wie der wachsende Widerstand gegenüber den infernalischen Besatzern sich hier entfaltet, sich durch Beton und Stahl frisst, von den Wellen davongespült wird, wieder zurückkämpft in die Ritzen und Höhlen, bis es zum offenen Kampf kommt, entwickelt jedoch eine solche filmische Wucht, wie ich sie dieses Jahr im Kino nur selten erlebt habe. Vielleicht sonst nur bei Dunkirk, der seine Mythenbildung ebenfalls zwischen Stahlwänden und erdrückenden Salzwasser-Massen betreibt. Tennessee’s Partner (1955)
Zwar kein Revolvergürtel über dem Trauerkleid, dafür eine Männerfreundschaft zwischen einem beinahe charismatisch-vitalen Ronald Reagan und Südstaaten-Gentleman-Spieler John Payne, die an Strahlkraft den CinemaScope-Landschaften der Konkurrenz in nichts nachsteht. Claire’s Camera (2017)
Von den drei Hong-Sang-soo-Filmen des Jahres der leichtfüßigste, findet sich Kim Min-hee auch diesmal in einer semi-autobiografisch-unglücklichen Beziehung wieder, allerdings eingefangen von der Sofortbildkamera Isabelle Hupperts. Während sich On the Beach at Night Alone und The Day After mit den Nachwirkungen zerbrochener Beziehungen beschäftigen, der eine in der Einsamkeit, der andere im Beisammensein, springt die Flüchtigkeit der Alltagsbeobachtungen von Hupperts Touristin in Cannes auf ihre koreanische Zufallsbekanntschaft über. Einmal schütteln, die Beziehungsepisode en detail betrachten und dann auf zum nächsten Foto. Twin Peaks: Fire Walk With Me (1992)
Wohl der erste David Lynch-Film, der mich vollends begeistert hat, treibt Fire Walk With Me den puren Horror im Leben der Laura Palmer weiter, als es der Serie mit ihrem großen Ensemble, dem Humor, dem Kirschkuchen und Agent Cooper möglich oder erstrebenswert erschien. Der gellende Schrei am Ende von The Return nimmt hier seinen Anfang, der Tod dazwischen erscheint gar als Erlösung, was Coopers Bemühungen über alle Twin Peaks-Staffeln hinweg in einem anderen Licht erscheinen lässt. Ghost in The Shell (2017)
Wenn es einem Film gelingt, das Betoncroissant namens Hong Kong Cultural Centre, seines Zeichens dystopische Architektur der Gegenwart, in einer Zukunftsvision noch kälter und unpersönlicher und grauer aussehen zu lassen, dann hat er meine Aufmerksamkeit. Anders als beim Concept-Art-Kino Blade Runner 2049 wirkt die roboterhafte Zukunft in Ghost in the Shell gelebt, abgenutzt, praktikabel, schließlich streifen auch die Cyborgs durch die Rotlichtviertel und Szeneclubs. Damit bewegt sich der Film von Rupert Sanders näher an Ridley Scotts Original als die glatte Villeneuve-Fortsetzung und ja, ich bin wahnsinnig voreingenommen, weil Ghost in the Shell einmal mehr die Hongkonger Architektur als Ausgangspunkt nimmt. Über das genialische Versionen-Casting von Scarlett Johansson und Michael Pitt bin ich immer noch nicht hinweggekommen.
Um bloß nicht in den Verdacht relevanter Filmdiskussion zu geraten, verzichte ich dieses Jahr auf eine Top-Liste der 2014 veröffentlichten Filme. Wenigstens hier im Blog. Wer über meine Top-Filme mit deutschem Veröffentlichungstermin die Stirn runzeln will, kann dies bei moviepilot tun. Stattdessen habe ich meine IMDb-Sichtungsliste durchforstet, 30 meiner liebsten Erstsichtungen 2014 herausgesucht und ungeordnet hier herein geklatscht. Mit Bild. Ohne Ton.
Wichtige Quellen cineastischer Freuden bildeten die Retrospektive “Aesthetics of Shadow” bei der Berlinale, das 1. Festival des italienischen Genrefilms “Terza Visione” in Nürnberg, das wie immer wundervolle Festival Il Cinema Ritrovato in Bologna, insbesondere dessen Werkschau zu William A. Wellman,die Pre-Code-Reihe im Arsenal Berlin und mein Netflix-Account. Wie wenig (bzw. gar kein) Hongkong in dieser Liste zu finden ist, fällt mir persönlich mit leichtem Schaudern auf. Andererseits gehörte das Hong Kong Film Festival im Arsenal zu meinen besten Film-Erinnerungen des Jahres, nur eben so gut wie ohne Erstsichtungen (dafür Dante Lams Unbeatable und Johnnie Tos Blind Detective im Kino. Ein Traum!). Wenn ich irgendeine Linie in meinem Sehverhalten 2014 erkennen kann, dann eine ziemlich große Präsenz von Dokumentationen, was in den vergangenen Jahren nicht der Fall war. Neben den hier genannten vor allem die Projekte von Ken Burns: Prohibition, The Central Park Five, Jazz, The Civil War, The West und der schönste Schnipsel aus Christopher Nolans im Übrigen durchaus ansehbaren Interstellar, The Dust Bowl. Nur Baseball habe ich nach 30 Minuten aufgegeben. Weil Baseball. At Berkeley (2013) Regie: Frederick Wiseman Epilog: Das Geheimnis der Orplid (1950) Regie: Helmut Käutner A Touch of Sin (2013) Regie: Jia Zhangke Die geliebten Schwestern (2014) Regie: Dominik Graf
Mit etwas Verspätung wegen diverser technischer Hindernisse gibt es nun endlich den Jahresrückblick im Wollmilchcast, leider ohne den versprochenen Käutner-Content (hier ein Ersatz). Matthias und ich sprechen über unsere jeweilige Top 10 des Jahres 2013, unabhängig von deutschen Kinostarts. Wer unsere Top-Listen nach Kinostarts sehen will, findet sie hier.
Das Filmjahr ist vorbei – Zeit, einmal Bilanz zu ziehen. Nicht die Meisterwerke sollen aus meinen gesehenen 89 Filmen mit Kinostart 2013 herausdestilliert werden, sondern die schlechtesten Filme des Jahres. Also seid bei folgender Auflistung gewarnt.
Platz 5:Rush – Alles für den Sieg (USA/D/GB 2013)
Die Formel 1 hat zahlreiche spannende Geschichten zu erzählen, besonders, wenn es auf der Strecke nicht um die Dauerweltmeister Michael Schumacher und Sebastian Vettel geht. Die Rivalität zwischen James Hunt und Niki Lauda in den 70er Jahren wäre so eine, doch Pathoskeulenschwinger Ron Howard inszenierte sie als stumpfes Buddy Movie-Melodram trotz eines überraschend starken Daniel Brühl mit unsympathischen Charakteren, das kalt lässt. Mit hoher Farbsättigung und minimaler Übersichtlichkeit nahm Kameramann Anthony Dod Mantle (Oscar für „Slumdog Millionär“) den Rennszenen die letzte Spannung und dem „Drama“ durch Reißbrettpsychologisierungen seine Intensität. Ein Kratzen an der geschniegelten Lackoberfläche – mehr ist die überschätzte Gurke „Rush“ nicht.
Platz 4:Wir sind die Millers (USA 2013)
Rawson Marshall Thurber lieferte 2004 mit „Dodgeball“ ein großartiges Kino-Regiedebüt, das gekonnt den Fitnesswahn auf die Schippe nahm. Der Humor ging – wie es der deutsche Titel versprach – voll auf die Nüsse und versprühte das lockerleichte Anarcho-Feeling der frühen Farrelly-Brüder. Davon ist nach fünf Jahren Regiepause in dieser spießigen 08/15-Klamotte mit absehbaren Wendungen nichts mehr zu spüren, in dem eine wild zusammengewürfelte Patchwork-Familie auf Zeit Drogen über die Grenze schmuggeln soll. Die Figuren sind Klischees, Jennifer Aniston zieht trotz ihrer Rolle als Stripperin aus Rating-Gründen nie blank und die Gags strotzen vor der infantilen Peinlichkeit eines verklemmten Teenagers, der am Strand beim Blick auf vollbusige Frauen unter Beifallklatschen seinen ersten Ständer bekommt. Eine Komödie aus der Retorte ohne Mut, Hintersinn oder Niveau.
Platz 3:Tore tanzt (D 2013)
Jesus hatte es schon nicht leicht während seines Martyriums – der Zuschauer bei „Tore tanzt“ auch nicht. Die titelgebende Hauptfigur (Julius Feldmaier) ist ein friedliebender Jesus-Freak, der seine Nemesis in dem die Stieftochter missbrauchenden Familienvater Benno (Sascha Alexander Gersak) findet. Dieser Despot lässt ihn unter zunehmender Unterstützung seiner Frau vergammeltes Fleisch essen, schickt ihn auf den Schwulenstrich und sorgt schließlich für seinen Tod. Doch selbst als der Punk die Möglichkeit hat, zu gehen, steht er der Stieftochter bei. Moralische Botschaft? Fehlanzeige. Nachvollziehbare Handlungsmotivation? Nicht vorhanden. Persönliches Ärgern beim Anschauen? Maximum. Eine stumpfe, unnötig drastische und sinnfreie Nachhilfe in Sachen Gottvertrauen, die ungefähr so viel Spaß und Unterhaltung bereitet wie die eigene Kreuzigung.
Platz 2:Ohne Gnade! (D 2013)
Boing, quietsch, bumm: „Mickey-Mousing“ ist eine Filmmusiktechnik, bei der gezeigte Geschehen auf den Punkt mit Geräuschen unterlegt werden. Auch „Ohne Gnade“, ein selten dümmliche Ausgeburt teutonischen Klamauks, bedient sich dieses Stilmittels – und sämtlicher Plattitüden, die man sich in Dialogen, Figurenzeichnung und Handlungsentwicklung vorstellen kann. Da soll sich Biene (Sylta Fee Wegmann) nicht „in den Schlüpfer puschen“, wenn ihre jüngere Schwester Püppi (Sina Tkotsch) versucht, Ronzo, den Stecher ihrer Mutter Hilde (Catrin Striebeck), eine Affäre mit einer Minderjährigen anzuhängen. Der Beginn eines lukrativen Geschäftsmodells. Mein lieber Scholli, wie eindimensional in diesem pseudo-emanzipierten Szenario die Männer als notgeile Pädophile gezeichnet werden, die – anstatt mal ordentlich das Ding reinzustecken – mit dümmlichem Hampeln lieber alberne Balztänze aufführen. Fremdschämalarm im lautesten und beklopptesten deutschen Film des Jahres – trotz Helge Schneider in einer Nebenrolle.
Platz 1:G.I. Joe – Die Abrechnung (USA 2013)
Modernes Actionkino, besonders wenn es besonders viel gekostet hat, bedeutet auch massig CGI-Effekte und Epilepsie hinter der Kamera. Bei Pseudo-3D mit digitaler Hochrechnung verursacht das abartig schnell Augenkrebs und Verärgerung. Ungleich des ebenfalls nervigen „The Rock“-Vehikels „Fast & Furios 6“ gesellen sich in „G.I. Joe – Die Abrechnung“ auch noch ein sinnfreier Nebenplot mit Ninjas hinzu und eine Figur, die seit dem ersten Teil tot ist. Mit den Actionfiguren der Spielzeugreihe infantile Feuergefechte aufzuführen wäre dramaturgisch komplexer als dieses Sammelsurium betont extrovertierter Kampfanzüge mit Schauspielergesichtern. Wahrlich ein „lärmender Kindergarten ohne Erziehungsberechtigte“ von dem nur Channing Tatum gecheckt hat, dass es eigentlich große promilitaristische Scheiße ist, in der er gerade mitspielt, und mal schnell weg musste.
Im Verfolgerfeld:
Die seeeehr spezielle 60er Jahre-Krimihommage 00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse, die blutige Grimm-Verhunzung Hänsel & Gretel: Hexenjäger, die faule Zaubershow Now You See Me – Die Unfassbaren, Ridley Scotts gelangweilt inszenierter Thrillertorso The Counselor, die nichtssagende Komödie Hasta la Vista, Sister sowie der feuchte Heimchentraum Austenland.
Nicht gesehen, aber mit Potenzial:
Das pathetische Betroffenheitskino The Impossible, das grenzdebile Parodie-Duo Ghost Movie und Scary Movie 5, den Scientology-Werbespot After Earth sowie den Meyer-Fantasieschinken Seelen.