Im letzten Teil meines Dekaden-Specials geht’s etwas mainstreamiger (lies: amerikanischer) zu, als in den anderen beiden. Wer sich einen Überblick verschaffen will über die Konkurrenz, kann sich meine MyMovies Liste der gesehenen Filme bei der IMDb ansehen, die natürlich allerdings nicht vollständig ist. Was hat die Zusammenstellung der Liste mir gebracht? Vor allem eine Konfrontation mit all den Filmen, die ich noch nicht gesehen habe. Die von Apichatpong Weerasethakul (“Syndromes and a Century”) und den Gebrüdern Dardenne (“Lornas Schweigen”) beispielsweise. Aber gerade deswegen macht man Listen, liest die Listen anderer Leute und diskutiert darüber.
Children of Men (J/USA/GB 2005)
Die besten Dystopien erschüttern uns in Mark und Bein, zeichnen das Bild einer Zukunft, die wir keinesfalls erleben wollen und verweisen so auf die gefährlichen Wurzeln, welche dafür in der Gegenwart gelegt werden. In einem mit einigen Dystopien versehenen Jahrzehnt, stellte Alfonso Cuaróns “Children of Men” zweifellos den Höhepunkt dar. Denn keiner der anderen Genre-Beiträge wie “V wie Vendetta” oder “Equilibrium” vermochte es, eine vergleichbare Verzweiflung und Aussichtslosigkeit angesichts der Zustände in unserer Zukunft zu suggerieren. Dabei bedient sich Cuarón in erster Linie nicht einmal bei dem bekannten Motiv des Überwachungsstaates, wie es so viele andere seit Samjatins “Wir” getan haben. Nichts weniger als das drohende Aussterben der Menschheit hat die Gesellschaft in ein Chaos gestürzt, wie es nur durch das latente Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins entstehen kann. Wenn nach uns nichts mehr kommt, warum noch dem Handeln Grenzen setzen? Terroristen jeder Couleur, ein drohender Aufstand im Inneren und ein rücksichtsloser Polizeistaat am Rande des Kollaps… Vor dem Hintergrund dieser Kulisse fällt es ausgerechnet dem resignierten Theo (Clive Owen) zu, das schwach glimmende Licht er Hoffnung vor dem Verlöschen zu bewahren.
Die allseitige Bedrohung in dieser Welt, in der keine Kinder mehr geboren werden, setzt Cuarón mit beachtlicher Selbstsicherheit bei der Wahl der stilistischen Mittel (u.a. die berühmten Plansequenzen) um, ohne der Gefahr zu erliegen, sich in selbstverliebten Spielereien zu sulen.
Ratatouille (USA 2007)
Gut zu essen, das ist eine wunderbare Angelegenheit. Die komplexe Gewürz-mischung einer Sauce auf der Zunge zergehen lassen. Die Geschmacks-explosionen im Gaumen nachverfolgen, genießen, ihre Ingredienzen erahnen. Wenn der Widerstreit scheinbar nicht kombinierbarer Sinneseindrücke im Mund beigelegt, der Genießende eines besseren belehrt wird, findet dieser sich schon bald im siebten Himmel wieder. Gutes Essen gehört zu den schönen Seiten des Lebens und der Akt des (liebevollen) Kochens übrigens auch. Nicht die sklavische Verehrung von Rezepten, sondern die instinktive Mischung, die abwegigen Eingebungen. Deswegen ist Kochen die vergänglichste aller Künste und seine Freuden – sowohl auf Seiten des Künstlers als auch des Konsumenten – unheimlich schwer medial ausdrückbar. Zumindest solange es kein Geruchs-/Geschmackskino gibt. Dass nun ausgerechnet Pixar einer der besten Filme über das Thema gelungen ist, kann aus heutiger Sicht kaum überraschen. Die können ja so gut wie alles. Wenn es um die Aufnahme in Bestenlisten geht, hatte “Ratatouille” in den letzten zehn Jahren viel Konkurrenz aus dem eigenen Stall. “Wall-E” mag (anfänglich) radikaler sein, “Die Unglaublichen” bieten mehr Unterhaltung und “Oben” ist ein einziger Stich ins Herz. Doch “Ratatouille” ragt mit einer nahezu perfekten und v.a. gleichmäßig hochwertigen Erzählung heraus und kreiert aus einfachen Zutaten eine unerwartete Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Kunst für Mensch und Ratte. Classical Hollywood Cinema eben, wie es kaum noch zu finden ist. Hauptsächlich aber macht “Ratatouille” eines: Appetit.
Zodiac (USA 2007)
Die Urkatastrophe des Serienkiller-Motivs ist bekanntlich Jack the Ripper und was hat ihn dazu gemacht? Nicht die Brutalität. Nicht die Kaltblütigkeit. Nicht die Opfer. Nicht der Ort. Whitechapel gehört zu den Zutaten genau wie die Prostituierten, die ihm zum Opfer gefallen sind, doch Jack the Ripper ist aus einem einzigen Grund zum Mythos geworden: Bis heute ist seine Identität unklar, denn er wurde nie gefasst. Darin gleicht ihm der Zodiac-Killer, dessen Verfolgung David Fincher seinen zweiten Ausflug in das Genre widmet. Hinzu kommen die Briefe und mit ihnen die seltsame Symbiose zwischen Killer und Presse, die problematische Kanonisierung der Opfer und damit letztlich die Ungewissheit. Gab es den Zodiac-Killer überhaupt? War es ein Täter, waren es mehrere? Fragen über Fragen, die Robert Graysmiths (Jake Gyllenhaal) Obsession füttern. Der Karikaturist und spätere Buchautor bewegt sich zunächst an der Peripherie der Ereignisse, müssten die eigentlichen Helden des Serienkillerfilms in diesem Fall doch der Inspektor David Toschi (Mark Ruffalo) oder der waghalsige Journalist Paul Avery (Robert Downey Jr.) sein. Graysmith avanciert jedoch bald zum Pendant all jener Ripperologen, deren Suche nach dem Mörder auch die Zeit nichts anhaben konnte. Das Genre auf seine Wurzeln zurückführend, zeichnet Fincher gleichzeitig ein stellenweise erschütterndes Bild der Taten und ihrer Auswirkungen auf San Francisco. Weniger reißerisch als viele Genrebeiträge (auch sein eigener “Sieben”), aber dafür eben ganz nah. Ein einfaches Picknick am See wird danach nie wieder dasselbe sein.
Che – Revolución & Guerilla (F/E/USA 2008)
Wäre “Ocean’s Eleven” ein ernsthafter Arthouse-Film, würde er wahrscheinlich so ähnlich aussehen wie “Che”. Ein Film über professionelle Räuber, der von der Zusammenstellung des Teams bis zum Gelingen des Coups jeden Schritt minutiös nachzeichnet, eben weil Soderbergh, der Analytiker, dafür verantwortlich zeichnet. Was also war zu erwarten, als sich der Mann mit der abwechslungsreichen Filmografie daran machte, Che Guevara auf der Leinwand zu begegnen? Kein Biopic, denn “Che” gehört nicht zur “Erin Brokovich”-Sorte, sondern entspringt vielmehr dem augenscheinlich entfremdenden “The Good German”-Soderbergh, der die Marketingabteilung des jeweiligen Studios gerne vor unlösbare Aufgaben stellt. Zum Ausklang eines Jahrzehnts, das von einem ganzen Biopic-Hype überfallen wurde, stellte sich Soderbergh gegen den Strom und lieferte statt der Aufarbeitung des Lebens einer Legende die Analyse zweier revolutionärer Kämpfe. Damit ist “Che” eine der ungewöhnlichsten Annäherungsweisen an eine historische Persönlichkeit, da der filmische Doppelschlag sich der klassischen Narrativisierung des Lebensweges widersetzt. Es ist wohl einer der abgeklärtesten Blicke auf eine Legende, den man in Filmform finden kann. “In seinem Zweiteiler wühlt sich Soderbergh durch die Barrieren, welche die Mythenbildung mit sich bringt, um eine vielleicht nicht neue, aber vormals verschüttete Sicht auf Guevara zu gewähren. Er nähert sich dem Selbstbild eines Soldaten an, eines argentinischen Arztes, der in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zum Revolutionär wurde und als solcher 1967 in Bolivien starb. „Guerilla“ beweist, dass Soderbergh der perfekte Regisseur für diesen Job ist.”
Inglourious Basterds (USA/D 2009)
Mein persönliches Kinoereignis des Jahres. Nicht nur wegen Christoph Waltz und Mélanie Laurent. Nicht nur wegen des “Es war einmal…” und der Konsequenz, mit der Quentin Tarantino diese Idee bis zum Ende führt. Nicht nur wegen großartiger Bilder, wie dem in Flammen aufgehenden Riesengesicht, der Aschenputtel-Szene und den zwei Männern, die sich in einer Holzhütte gegenüber sitzen und reden. Was als Nazi-Klopperei in den Trailern verkauft wurde, entpuppt sich als Tarantinos bei weitem ehrgeizigstes Projekt. In jeder Sequenz, jeder Einstellung spürt man seine Ambition, ein Werk epischer Proportionen auf die Leinwand zu bannen und es ist ihm gelungen. “Inglourious Basterds” beweist, dass sich der einstige Posterboy der Postmoderne längst in eigenen Sphären mit einem unüberschaubaren System der (Selbst-)Referenzialität bewegt. Tarantinos Sprache – seine narrativen und metaphorischen Codes – ist das Kino und wo andere seiner Werke sich in Richtung semiotischer Spielereien, deren Strukturen interessanter sind, als die vermeintlichen Lebewesen, die sie verkörperten, bewegten, ist “Inglourious Basterds” nicht “nur” ein Film, sondern totales Kino geworden. Eines, das Gehirn ebenso anspricht wie das Herz. Ein wunderbares Werk, das dem amerikanischen und italienischen Western ebenso viel zu verdanken hat, wie der BRD-Trilogie Fassbinders und damit mal eben kinematografisch den Atlantik zu überspannen weiß.