Die Internetflaute ist überstanden, Wiesbaden versinkt im Regen und der vierte Tag des 22. Exground Filmfests ist angebrochen. Auf vier Spielstätten verteilt, darunter die prachtvolle Caligari-Filmbühne und das gemütliche Alpha Kino, ergründen verschiedene Reihen das Weltkino der Marke „unabhängig“. Als Highlights haben sich bisher herausgestellt die Youth Days, American Independents und wie auch letztes Jahr die News from Asia. Den Länderschwerpunkt kann Schweden für sich beanspruchen.
Freitag:
I Sell the Dead (USA 2008)
Das Spielfilmdebüt von Glenn McQuaid lief ja bereits beim Fantasy Filmfest. Doch auch die zweite Sichtung ließ den Eindruck nicht verschwinden, dass es sich hier um einen mühsam auf Spielfilmlänge ausgedehnten Kurzfilm handelt. Die mit allerhand Potenzial ausgestattete Prämisse – eine Art Hammer-Horrorkomödie über zwei Leichenfledderer – wird nicht voll ausgeschöpft. Stattdessen krankt der Film an seiner espisodenhaften Struktur, dem oftmals fehlenden Timing und ermüdenden, v.a. Zeit schindenden Dialogen. Nach dem FFF war meine Haltung noch etwas positiver, wie man hier nachlesen kann.
Samstag:
Moruk / Jedem das Seine / Fliegen (D 2009)
Neues aus Deutschland heißt eine Reihe, in deren Rahmen am Samstag drei mittellange Kurzfilme gezeigt wurden, die sich alle auf sehr unterschiedliche Weise mit Deutschland als Einwanderungsland auseinandersetzen. So erzählt “Moruk” von Serdal Karaca ausschnitthaft aus dem Leben der beiden unterschiedlichen Jungs Hakan und Murat, die unentschieden vor dem Weg in die Erwachsenenwelt stehen, unsicher darüber, ob sie überhaupt einen Schritt weiter gehen wollen. So vertreiben sie ihre Zeit mit Warten, Kiffen, Spaß haben. Ihnen dabei zuzuschauen macht ungeheuer Spaß, doch unter der witzelnden Schale der beiden steckt die Unsicherheit über das „wohin“; eine Frage, deren Antwort Regisseur Karaca subtil und ohne Zeigefinger aus seinen Schwarweißbildern herauspellt, ohne seinen Humor zu verlieren.
Weniger gelungen, weil allzu offensichtlich in seiner belehrenden Herangehensweise ist da “Jedem das Seine”, dessen Titel eigentlich schon selbsterklärend ist. Zwei Brüder werden in einem Verhöhrzimmer mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Der eine ist Polizist, der andere soll eine Frau zusammengeschlagen haben. Aus dieser Konstellation, die alle Anlagen zum Kammerspiel mitbringt, entsteht stattdessen ein groß angelegtes Drama auf kleinem Raum, das all zu viel für den Zuschauer ausbuchstabiert, ohne dass die Figuren eine für die Spielzeit angemessene Wandlung vollziehen. Hinterher ist man leider so klug als wie zuvor.
Ganz anders funktioniert da “Fliegen”, der zwanzig Minuten kürzer und mit hohem Durchschnittstempo eine einfache Episode so intensiv zu erzählen vermag, dass die Konkurrenz gelb vor Neid anlaufen sollte. Auf ihrem Dachboden versteckt darin die Studentin Sarah (Sandra Hüller) den von der Abschiebung bedrohten Dima (Jakob Matschenz). Sie braucht ihn für ein Filmprojekt über junge Ausländer, er braucht sie, weil ihm keine andere Heimat geblieben ist. In kurzer Zeit entwickelt Regisseur Piotr J. Lewandowski daraus die Miniatur einer großen Tragödie, die sich das an dieser Stelle häufig gemiedene Prädikat „besonders authentisch“ mehr als verdient hat.
Humpday (USA 2009)
Zwei heterosexuelle Kumpels wollen sich für ein Kunstporno-Festival beim Sex filmen. Was wie der Aufhänger für eine platte Komödie klingen mag, nimmt Lynn Shelton zum Anlass, einen unglaublich unterhaltsamen Film über die ungeahnte Dynamik einer Männer-Freundschaft zu zaubern, ohne den lockenden Klischees zu erliegen. Ein an der Grenze zur Perfektion wandelnder “Hangover” für die Arthouse-Crowd. Toll.
Captain Berlin versus Hitler (D 2009)
1973 muss der erste (und letzte?) deutsche Superheld Captain Berlin gegen das wiederbelebte Gehirn Hitlers, dessen SS-Gehilfin Dr. Ilse von Blitzen (!) und den sprichwörtlich roten Dracula antreten. Genug Stoff, mit dem Jörg Buttgereit in seinem Theaterstück einen bunten Trash- und Stilmix generiert, irgendwo zwischen Theater, Film und Comic. Nach Jahren langweiliger Theater-Abfilmungen kaum zu glauben, wie viel hier aus dem Geschehen auf der Bühne gemacht wurde. Dabei werden die nachträglich hinzugefügten, deutlich von Tarantinos und Rodriguez’ “Grindhouse”-Experiment inspirierten, Elemente nahtlos mit der Aufführung verschweißt.
Sonntag:
Forbidden Fruit (Fin 2009)
Zwei Teenager aus einer erzkonservativen christlichen Gemeinschaft gehen in die große Stadt, um das Leben kennenzulernen. Was zum belehrenden Manifest gegen die im Film gezeigte Religionsgemeinschaft hätte werden können, bleibt zwar nicht unkritisch, ist sich glücklicherweise aber der Komplexität seines Themas bewusst. Maria und Raakel werden nicht ohne weiteres in tanzende, weltoffene Teenies verwandelt. So einfach ist die Welt eben nicht. Stattdessen plagen sie Glaubenskrisen und die Erkenntnis, dass im freizügigen Leben abseits ihrer abgeschotteten Herkunft das Scheitern mit inbegriffen sein kann. Im wesentlichen ist “Forbidden Fruit” jedoch ein Film über die Qualen und Segnungen der Pubertät und des Erwachsenwerdens, die eben jeder auf seine Weise bestreiten muss.
Below Sea Level (USA/I 2009)
Jeder hat eine Geschichte zu erzählen in “Below Sea Level” und meistens sind es Geschichten von Schicksalsschlägen und der Herausforderung, sich hinterher wieder aufzuraffen und nicht allen ist das gelungen. Sie leben in der Wüste südöstlich von Los Angeles. Alte Busse, Campingwagen, Autos, Zelte sind ihr Zuhause in dieser menschenfeindlichen Umgebung. Vier Jahre lebte Gianfranco Rosi unter diesen Exilanten der Zivilisation und man merkt dem Film an, dass diese ein großes Vertrauen zum Regisseur gefasst haben müssen. Tag und Nacht begleitet Rosi den Alltag der Obdachlosen, deren Kampf ums Überleben man in ihren verwitterten Gesichtern ablesen kann. 129 Fuß unter dem Meeresspiegel sind ihre Unterkünfte gelegen und man kann Rosi nur dankbar sein, dass er abgetaucht ist, um ihre Geschichten einzusammeln.
Antique (ROK 2009)
„This Film is all over the place“ würde man im Englischen sagen, denn “Antique” ist ein Musterbeispiel all dessen, was am koreanischen Kino nerven und gefallen kann. Wie eine Komödie fängt der Film über die charmanten Eskapaden in einer Konditorei an, um dann noch ein weiteres, nicht gerade nahe liegendes Genre (Tipp: es hat mit Serienkillern zu tun) mit in die knapp 110 Minuten Laufzeit zu quetschen. All das wird mit einer vor Fantasie übersprudelnden Geschwindigkeit erzählt, die man gesehen haben muss, um sie zu glauben. Strange.