Vom 23. bis zum 30. Juni veranstaltete die Cineteca Bologna wieder das Il Cinema Ritrovato. Wieder liefen zehn Uhr abends restaurierte Klassiker für jeden kostenlos auf der Piazza Maggiore, einem Platz umgeben von wunderschönen Renaissancegebäuden. Wieder liefen Highlights und unbekanntere Filme eines klassischen Hollywoodfilmmachers. Dieses Jahr war es Raoul Walsh. Wieder liefen verschüttete Perlen aus der Zeit des frühen Tonfilms und des Stummfilms aus aller Herren Länder. Aber auch Filme, die weniger wegen ihrer Qualität, sondern wegen des Spiels der Farben gezeigt werden, Farben die durch den langsamen Zerfall des Materials wunderschöne oder interessante Effekte entwickelten. Spezielle Leckerbissen für die speziellen Fans in einem eh schon speziellen Festival.
Beim 26. Il Cinema Ritrovato wurden frühe Tonfilme aus Japan gezeigt, Filme von Jean Grémillon, Iwan Pyrjew, Lois Weber und Alma Reville, Filme über die große Depression, die auf den Schwarzen Freitag folgend die 30er Jahre bestimmte, und vieles mehr. Raoul Walsh war aber für mich die größte Entdeckung dieses Jahr. War es letztes Jahr Boris Barnet, den ich ins Herz schloss, war es diesmal dieser Gott der Bilder und des ungehemmten Comic-Relief-Einsatzes. Dieser Regisseur, der sich scheinbar nie für Perfektion und ernsthaftes Filmemachen erwärmen konnte, der offene, warme und tänzelnde Filme voller herausragender und –fordernder Bilder machte.
Die Ausrichtung des Cinema Ritrovato ist dabei nicht nur reizvoll, weil sie einfach Filme zeigen, an die sonst schwer heranzukommen ist, sondern auch weil sie zu inneren Spannungen führt. Spannungen im Programm und Spannungen in der Wahrnehmung, was einen guten Film ausmacht. Der Ansatz stellt sich gegen eine eng begrenzte Kanonisierung und steht eher für enthusiastischen Komplettismus. Aber meist gibt es Gründe, dass Filme vergessen wurden. Sie passten nicht in Entwicklung zur modernen, angesehenen Kunst. Es sind die Schmuddelkinder, die hier oft gezeigt werden. Deshalb kann es passieren, dass der geneigte Zuschauer plötzlich in einem glühenden Kostümmelodram (La nave delle donne maledette) sitzt, das in der Mitte in eine Orgie umschlägt. Hemmungslos fallen Bootsmannschaft und gefangene Frauen übereinander her. Die Szenerie geht in Weinfontänen, die auf nacktes Fleisch klatschen, auf. Rauschhaft werden Kleider zerrissen, Menschen gepeitscht, alle Zügel der Zivilisation abgeworfen. Lust und Raserei herrschen. Mit gutem Geschmack, mit einem bürgerlichen Kunstverständnis hat das nichts zu tun. Und auch wenn das nur ein Extrembeispiel ist, die Filme, die in Bologna zu sehen sind, haben selten Perfektion auf ihre Fahnen geschrieben. Wie bei Raoul Walsh und selbst Mizoguchi Kenji tummeln sich Comic-Relief-Kasper, die auch die epischste oder tragischste Geschichte in den Sumpf der sündhaften Populärkultur ziehen.
Gleichzeitig befindet sich Il Cinema Ritrovato aber genau in diesem Kunstbetrieb, den sie nur bedingt bedienen können. Ohne ihre Filme auf ein Kinderschuh-Niveau entwerten zu lassen, stehen sie vor einem Dilemma, wie man zum eigenen Programm steht. Die Texte des Kataloges gehen jedenfalls recht unterschiedlich damit um. So schreibt Paola Cristalli an einer Stelle: „Me and My Gal is the perfect title for this fresh, asymmetric film, so vivid and unbalanced, one of the rarities that our retrospective is proposing, almost unknown to audiences outside the States and deeply admired by the most influential critics“. Das Ende ist fast schon eine Erpressung, ihr zu glauben, dass ein unausgewogener Film tatsächlich gut sein kann. Die einflussreichen Kritiker mögen ihn ja sehr. Sicherlich ist das nur eine kleine Stelle, die nicht überbewertet werden sollte, aber solch kleine Stellen sind immer wieder zu finden. Der Auszug aus „Amour – Erotisme & cinéma“ von Ado Kyrou, der als Text für La nave delle donne maledette dient, schlägt in eine andere Kerbe, aber das Problem bleibt das gleiche. So führt er aus: „In this film – which I find amusing like many awful melodramas, almost Dadaist for their lack of narrative construction and directing precision – elements like religion, women‘s magazines, and big sentiments are all piled on without any harmony”. Der Dada-Bezug ist wie die intellektuelle Erlaubnis, diesen Film auszulachen, der in den Augen von Kyrou so misslungen ist. Ich habe leider noch keinen Film von ihm gesehen, aber sein Verlangen nach perfekt konstruierten Geschichten setzt ihm anscheinend Scheuklappen auf. Sicherlich ist Raffaello Matarazzos Film nicht perfekt konstruiert und sicherlich bedient er sich ordentlich bei Groschenromanen und den entsprechenden Filmen. Deshalb ist der Film aber nicht lächerlich. La nave delle donne maledette gleicht einem rauschhaften Traum, der seiner eigenen Logik folgt. Kein Körnchen Realismus trübt den tosenden Verlauf dieses eskalierenden Traumes. Und unter uns (hier in der weiten Welt des Internets), er gleicht wie kein anderer einigen Träumen und Phantasien, die mich seit meiner Kindheit begleiten. Etwas so irreales festzuhalten, dass ist eine Kunst für sich. Und so mitreißend der Rest von Kyrous-Text ist, ist diese Rechtfertigung geradezu beleidigend für La nave delle donne maledette … jaja und mich.
Bei Programmleiter Peter von Bagh sieht das ganz anders aus. „Samson and Delilah stands as an outrageous homage that reflects an understanding of why the Bible remained at the crossroads forever. Whatever the religious point of view, it’s all about spectacle, veiled obscenity, vulgar piety, sadism, bad taste, divine miracles, consumer gadgets and wild animals. Above all it is a masterpiece of second-degree eroticism, or as Simon Louvish writes: ‚Though claiming to find his inspiration in the great art of Michelangelo, Rubens und Gustave Doré, it clearly was a great sex and tough-guy story at its root, however the Spirit of the Lord might have shaped it?. Ein Loblied auf die Berechtigung und Schönheit von Schund.
Sicherlich ist Bologna kein Ort, in dem es um Schund geht, aber er hat seinen Platz. Er ist da, auch wenn sich manch jemand noch ein bisschen dafür schämen mag. Neben anerkannten Klassikern, die manchmal schon zu geleckt sind (die bewegte Postkarte Tess von Polanski zum Beispiel), stehen die unfertigen, unausgeglichenen, auch naiven oder schmierigen Unbekannten. Und das ist es, was Bologna ausmacht, das Suchen zwischen Kunst und Schund. Gelöst ist dort nichts. Diese Spannung im Programm bleibt erhalten und macht den Charme, neben dem wunderbaren Bologna und den unfassbaren Pizzen, von Il Cinema Ritrovato aus.
So, damit die Spannung ins unermessliche steigt, gibt es jetzt hier einen cut. Das filmische Resümee wird bald nachgereicht. Sehr bald.