2010 war ein erlebnis- wie auch filmreiches Jahr. Natürlich konnte nicht alles sofort in tiefsinnigen Formulierungen für die Ewigkeit festgehalten werden. Einige Ereignisse hätten aber durchaus eine gewisse intellektuelle Auseinandersetzung verdient, gingen jedoch in der Hitze des Gefechts verloren. An dieser Stelle ist es an der Zeit, sich an diejenigen kinematographischen Episoden zu erinnern, die es leider nicht ins Tagebuch geschafft haben. Meinen ganz persönlichen drei bemerkenswertesten Filmereignissen folgen sieben ehrenwerte Nennungen (chronologisch geordnet) und ein „Überraschungsbonus“.
1 Inglourious Basterds
„Inglourious Basterds“ war für mich DAS große Kinoereignis des Jahres 2009. Im Sommer 2010 konnte ich dieses wunderbare Erlebnis wiederholen, da der Film in meinem Lieblingskino (dem Lichthaus in Weimar) in der Open-Air-Reihe gezeigt wurde, und das sogar OmU. Nach dem Erwerb des Tickets und eines Getränkes ging es an Kinosaal 2 vorbei und raus ins Grüne. Auf der kleinen Grünfläche hinter dem Gebäude des ehemaligen Straßenbahndepots standen weiße Plastik-Gartenstühle. An den Gesprächen meiner Co-Kinogänger vor dem Beginn der Vorstellung konnte ich erkennen, dass auch die meisten von ihnen den Film nicht zum ersten Mal sahen und sich freuten (oder sich über die Vorstellung in OmU ärgerten, was wiederum meinen Zorn über diese bescheuerten Banausen hervorrief). Der Film begann schließlich. Die Zigaretten im Publikum qualmten. Zu fortgeschrittener Zeit konnte man riechen, dass nicht nur Tabak geraucht wurde. Unvergesslich wurde das ganze auch dadurch, dass ich nur die üblichen Klamotten trug, die ich auch sonst getragen hätte. Trotz des Hochsommers wurde es dann im Verlauf des Abends empfindlich kälter, spätestens bei der Szene über die Fragen der jeweiligen Identität in der Kellerkneipe. Der Film konnte aber durchaus davon ablenken. Sehr herzerwärmend und für mich eine Premiere war der Applaus des Publikums bei Beginn des Abspanns, nachdem Hans Landa das bekommen hatte, was er verdient (man stelle sich Hans Globke mit einer Narbe im Gesicht vor!). Mit schmerzenden Händen (ich hatte begeistert mitgeklatscht), völlig abgekühlt, aber trunken vor Freude verließ ich das Kino. Ich freue mich schon auf die nächste Kinovorstellung des Films im Jahre 2011!
2 Assault – Anschlag bei Nacht
Was als ein entspannter Filmnachmittag und -abend mit Bier, Antipasti und Chili con carne begann, entwickelte sich zu einer absurden und interaktiven (!) Filmvorführung, bei der die Unterscheidung zwischen den Filmschaffenden und dem Publikum weitestgehend verwischt wurde. In der Wohnung eines Kumpels, mit dem ich die Vorliebe für die Geschichte Osteuropas, Filme und scharfes Essen teile, wurde zunächst „Shoot‘ em up“ zum besten gegeben. Mit Chili con carne für ein ganzes Regiment ausgestattet, folgte „Wanted“. Ja, es war ein Tag für sinnlose, brutale, hirnverbrannte, frauenverachtende, urkomische, coole, sinnlose (hab ich wohl schon erwähnt) und wunderbar unterhaltsame Trash- und Ballerfilme. Mit der Ankunft von Stabsmitgliedern des Blogs (damals war ich selbst noch kein „the gaffer“-Mitarbeiter) wurde der Spaßfaktor noch erhöht, und zwar mit John Carpenters „Assault“ und der Interaktion eines diabolischen Schreiberlings mit dem Film. Vordergründig ein ziemlich düsterer, brutaler und humorloser Thriller, kann „Assault“ seine teils unfreiwillig komische, extrem trashige Ästhetik und die offensichtlichen Inkohärenzen im Plot nicht verbergen. Man muss den Mängeln des Filmes gegenüber einfach offen sein, dann ist er auch ein Genuss. Die bereits genannte Person mit teuflischem Hintergrund tat dies, indem sie spontan und live den Film mit einem improvisierten Audiokommentar und alternativen Dialogen begleitete. Dem Film konnte dadurch ganz neue Perspektiven entlockt werden, hauptsächlich über die sexuellen (oft auch homosexuellen) Motivationen der Charaktere. Auszüge aus diesem improvisierten Audiokommentar können an dieser Stelle (leider?) nicht zitiert werden. Pornographisch, geschmacklos, sexistisch, pubertär? Ja! Aber es war ein Riesenspaß. Und mein Blick auf „Assault“ ist für immer verändert!
3 Dead Man
Wie passen Hegel, Jarmusch, Bier und eine Knoblauch-Sauce, die einem für die nächsten 24 Stunden jegliches Sozialleben verbietet, zusammen? Eigentlich ganz gut! Philo-Kino war für mich im Frühling und Sommer dieses Jahres immer ein entspannendes Ereignis. Es wurde gegrillt, man aß mit Bekannten und Unbekannten zusammen Bratwürste, Steaks und Fetas. Dazu Bier und Wein. Um neun oder halb zehn fing der Film an. Für die meisten Anwesenden bedeutete das: Film-Gucken. Ein kleiner Kreis von Säufern, Musikfreaks und verlorenen Seelen zog sich hingegen in den Fachschaftsraum zurück, wo weiter getrunken und diskutiert wurde (meist eher über Neil Young als über Schopenhauer). Oft war ich Angehöriger der zweiten Gruppe. Nach dem Ende der Kino-Vorstellung gab’s für uns immer Resteessen (gratis Würste, Steaks und Kartoffeln mit der berüchtigten Knobi-Sauce). Und dann weiter trinken und quatschen bis in die Puppen. Einmal jedoch habe ich den Film tatsächlich geschaut: „Dead Man“. In einem Seminarraum mit Beamer und manchmal aussetzenden Boxen, mit deutscher Synchro, mit Leuten die ein und aus gehen, mit dem permanentem Gedränge bei der Getränkeausgabe und dem ständigen heiteren Flüstern lässt sich kaum von purem Kinogenuss sprechen. Aber das ist auch egal. Die Publikumsreaktionen auf die Gewaltszenen waren zumindest ähnlich wie im Kino. Nach der Vorstellung versuchte ein Fachschaftsmitglied, ordnungsgemäß eine Diskussion über den Film in Gang zu bringen, geleitet vom Semestermotto „Vergänglichkeit und [irgendetwas]“. Es entstand eine angeregte Meta-Diskussion, bei der letztlich der Diskussionsleiter verarscht wurde. Mein Banknachbar und ich traten mit tiefgreifenden Gedanken über die Bedeutung von Cole Wilsons ödipaler Ursünde hervor und fragten insbesondere nach der konkreten Reihenfolge ihrer drei Komponenten (Sex, Tod, Essen). Die Frage blieb unbeantwortet. Der Abend war aber ein voller Erfolg und klang wie immer im Raum der Fachschaft aus.
Die Nackte Kanone
Es muss nicht immer eine Kinoleinwand sein. Auch ein kleiner Laptop auf dem Tisch einer WG-Küche, um den sich vier Leute zwängen, kann reichen, denn diesen Film kann man auch mit dem piepsigen Ton der Notebook-Lautsprecher genießen. An diesem klirrend kalten Januarabend konnten wir nicht wissen, dass Leslie Nielsen das Ende des Jahres nicht mehr erleben würde. Durch Frank Drebin wird er aber immer unsterblich sein.
Armee im Schatten
Jean-Pierre Melville dekonstruiert in seiner Adaptation von Joseph Kessels autobiographischen Roman das Heldenbild der französischen Résistance. Diese wurde nicht durch Helden geprägt, sondern durch Menschen, die in einer Extremsituation zu extremen Mitteln griffen, oftmals gegen die eigenen Leute. Ein stilles, sperriges Meisterwerk, das sich wohl erst bei mehrmaligem Sehen voll entfalten wird.
Nokan
Ein wunderschöner Film über Zeremonien, Abschied, Trauer und Schmerz, der makabren Humor mit tiefer Emotionalität vermischt. Der Film des Jahres, bei dem ich am Schluss fast wie ein kleines Kind geheult habe. Oder doch nicht „fast“?
Hot Fuzz
Der zweite Teil der „Blood and Ice Cream“-Trilogie war mein Lacher des Jahres im Heimkino. Ein Plädoyer für die zügige Reparation baufälliger Gebäude, das die Lachmuskeln stark strapaziert.
Braindead
Morgens um halb drei in Jena… ich meine Sonntag Nachmittag kurz nach dem Aufstehen. Um mein postalkoholisches Intoxikationssyndrom zu bekämpfen, erschien mir ein hirnloser Splatterfilm genau richtig. Nichts hatte mich auf diese wunderbare Geschmacksverwirrung mit einem solch herrlichen 50er Jahre Teeny-Komödien-Charme, einem satirischen Blick auf dysfunktionale Familien und einer innovativen Anleitung zur Beseitigung lästiger Partygäste vorbereitet… Der ideale Katerfilm.
The Expendables
Dieses schweiß-, blut-, testosteron- und Botox-geschwängerte Machwerk war mein Kino-Lacher des Jahres. „The Expandables“ ist eine eindrucksvolle Demonstration dafür, dass man auch ohne sinnvolle Story und ausdrucksstarke (!) Charakterdarstellung (!!) viel Spaß im Kino haben kann: männliches Prügeln, Rumgeballer und Rumgeprotze reichen völlig aus. In der Nachdiskussion wurde für „töten“ das Synonym „wegrotzen“ sehr treffend geprägt.
Franziskus, der Gaukler Gottes
Mein neorealistisches Ereignis des Jahres war trotz des vordergründig religiösen Themas auch für einen bekennenden Atheisten wie mich interessant. Manche Episoden waren schwächer als andere. Die Bilder der Begegnung Francescos mit dem Leprakranken sind jedoch unvergesslich, einprägsam, unglaublich stark und bilden den Höhepunkt des Films.
Und das Nicht-Ereignis des Jahres
Das alljährliche internationale Très-Courts-Festival fand dieses Jahr nicht statt. Seit 2005 nahm das Lichthaus in Weimar immer im April bzw. Mai daran teil, mit den etwa 50 internationalen Ultrakurzfilmen (maximal drei Minuten) und einer regionalen Auswahl. Dieses Jahr nix… nächstes Jahr auch nix… Herzlichen Dank, liebe „große Koalition“ in Erfurt!