Diskussionen zu hören ist fürchterlich. Ich finde es schwer ertragbar. 1993 habe ich eine Folge von Hans Meiser gesehen, in der es um Dinosaurier ging. Ich war ein zwei Jahre vorher auf Godzilla getroffen, hielt ihn für einen Tyrannosaurus Rex und war zutiefst fasziniert. Während des Sehens hat mich nur eine Frage interessiert: „Was unterscheidet einen Deinonychus von einem Velociraptor?“. Eine unwichtige Frage, die mich auffraß. Die ersten waren meine Helden aus den „wissenschaftlichen“ Büchern und die anderen die bösen, aus dem Nichts auftauchenden Zöglinge Hollywoods. Ich wollte eine Antwort und bekam nur Gelaber. Themen, die mich nicht interessierten und Blah. Je länger es dauerte, desto ungeduldiger und aggressiver wurde ich. Es war frustrierend, diesen Dummbatzen zuzuhören. Kurz vor Schluss hat tatsächlich jemand die Frage gestellt. Die offensichtliche Frage. Die einzig wichtige Frage. Gebannt lauschte ich der halbwegs befriedigenden Antwort. Seit diesem Erlebnis ist mir ein tiefsitzender Glaube eingepflanzt, durch die ich Studien, die besagen, dass Talkshows intolerant machen, gerne und ohne Widerstand glaube. Ich hatte Hans Meiser und seine Diskussionspartner gehasst. Nur ein Zögern darüber, eigene Erfahrungen zu einer allgemeinen Wahrheit zu machen, lassen mich vom Glauben abweichen.
I’m willing to die too, but not of boredom. (Zabriskie Point)
Zwei Renault-Fabrikarbeiter und drei Studenten sitzen 1968 im Gras und diskutieren über den vergangenen Generalstreik. Darüber, was schiefgelaufen ist. Ob es der Anfang oder ein Ende ist. Was getan werden muss. Was einem am anderen stört, was sie gegenseitig misstrauisch macht, was sie voneinander trennt. Die Revolution im Allgemeinen. Geschehnisse im Besonderen. Meist sind sie nicht beim Reden zu sehen. Die Bilder in Un film comme les autres bieten uns schreiende Menschen in den Straßen, Daniel Cohn-Bendit agitierend, Steine fliegend, Polizisten schlagend. Zeitdokumente, damals nichts mehr als Nachrichten und Realität. Der Kampf, die Energie, die Hoffnung bersten aus den Bildern. Aufbruch, Kampf und verrannte Gedanken dieser Schwarz-Weiß-Bilder werden nur vom Grün des hohen Grases unterbrochen, in dem mal mehr, mal weniger erkenntlich fünf Menschen sitzen und diskutieren.
Sie reden, reden und reden. Nacheinander, ohne Pause, durcheinander, gleichzeitig. Vor allem im Off sprechen sie, weil wir ihre Münder selten sehen können. Aus dem Off dieser Diskussion erzählen uns die Stimmen der Studenten von Ereignissen von 1968, von Geschehnissen während der deutschen Besatzung, lesen von Gott und der Welt vor. Erschlagen werden wir von den Gedanken, den Diskussionen, den Bildern, den Implikationen, den Anstößen und den Fakten.
Das Thema des Films ist für Godard in erster Linie die lebendige Sprache der Diskussionsgruppe, ihr Stottern, ihre Sackgassen, ihre Überschneidungen, Wiederholungen, ihre Naivität, eine Sprache, die noch nicht erschlagen ist, aber die es bald sein wird. Godard legt Wert darauf, dass die freie Entwicklung und die Dauer der Rede respektiert werden. (Alain Bergala, Cahiers du cinéma, 11/1990 oder Klappentext einer dt. DVD)
Seinen eigenen Gedanken folgen kostet einem die Diskussion. Die fehlende Möglichkeit eingreifen zu können, kann frustrierend sein. Unfähigkeit sich gegen die Ärgerlichkeiten zu wehren oder die interessanten Punkte zu vertiefen, ist ein jeder in Un film comme les autres ausgeliefert. Sie ist ein Akt der Gewalt, wie das Verbrechen.
Wir lernen, dass es Klassiker im Kino gibt, dass es gute und schlechte Filme gibt. Im französischen Fernsehen sollte es aber nur gute Filme geben. Filme, die keine intellektuelle Vergiftung sind, um die Menschen in einem Zustand der Passivität und Gleichgültigkeit zu halten. Sendungen mit Titeln wie „Heute abend ins Theater“ oder „Theatre de Boulevard“, das ist doch zum Heulen. (Un film comme les autres)
Es ist ein Allgemeinplatz, der in Filmen von weisen Meistern wiederholt wird, nachdem Zuhören einen weiterbringt als Eingreifen oder Selbstreden. Wer also Antworten von Un film comme les autres erwartet, der kann zuhören und sich am Ende Gedanken machen, was er gehört hat. Eine fiese, schwere Aufgabe, die kaum zu bewältigen ist, denn dieser Film baut keinen Sog auf, der einen gefangen nehmen will. Er sucht Distanz. Bestenfalls kann er uns etwas Abstand von uns selbst bringen. Schlimmstenfalls Hass auf das ewige Gerede.
Simon Frisch hat zu mir in einer Diskussion über Sátántángo einmal gesagt, dass es ein Film ist, mit dem gelebt werden kann. Dem nicht die ganze Zeit gefolgt werden muss. Wir können aufs Klo gehen, die Gedanken schweifen lassen, den Bildern statt den Worten folgen. Ein Film in den wiedereingestiegen und aus dem wieder ausgestiegen werden kann. Er wird bleiben, wie er ist und vor sich hinlaufen, egal was wir machen. Egal was wir aus ihm machen. Und außerdem, wer will schon Antworten?
Wenige Sekunden herrscht zwei-, dreimal Ruhe. Erfrischende Ruhe. Die Gewalt verschwindet, wie der Rasenmäher des Nachbarn aufhört. Erleichternd, auch wenn wir ihn kaum noch wahrnahmen. Trotzdem ist Un film comme les autres kein schlechter Film, dafür ist er zu wenig Heldenverehrung und vor allem zu weit weg vom wohligen Eierschaukeln, mit dem heutige Fernsehredakteure die 60er Jahre in Frieden ruhen lassen, als nostalgische warme Wanne der Schönheit und Einöde. Was jeder mit diesem Kram hier macht, bleibt ihm überlassen. Mit ihm leben hat aber einiges für sich.
Es handelt sich übrigens um einen Film von der Groupe Dziga Vertov (und Jean-Luc Godard).