Und nun … Trommelwirbel … das filmische Resümee. Ich habe letztes Jahr 17 Filme gesehen bis ich gehen musste. Diesmal waren es 26 und wieder musste ich vorzeitig die Zelte abbrechen. Und auch wenn vielleicht eine ultimative Offenbarung wie Am blausten aller Meere aus dem letztes Jahr fehlte, war dieses Jahr nochmal großartiger. „You have a beautiful town. And one of the best festivals in the world” sagte John Boorman dem Publikum auf der Piazza und hatte mehr als Recht. Was gab es also? Hier eine Top Eleven und der Rest:
11. Der Dieb von Bagdad (USA/1924)
Wie letztes Jahr wird die Top Liste vom Thief of Bagdad eröffnet. Und auch wenn gerade Powell das Remake von 1940 mit großartigen Bildern in mein Gehirn zu brennen wusste, so ist das Original von und mit Douglas Fairbanks vielleicht die bessere Version, wenn auch knapp. Gerade Fairbanks, der in den Jahren davor in den Rollen von Zorro, D‘Artagnan und Robin Hood zu Hollywoods bedeutendsten Abenteuerhelden aufstieg, macht riesig Spaß. Der zum Entstehungszeitpunkt des Filmes schon 40-41-jährige Schlingel brennt förmlich. Mit jugendlichem Übermut springt er akrobatisch durch den Film und macht ca. 435 Zwischentitel überflüssig, weil er den Begriff overacting ad absurdem führt. Das geklaute Essen schmeckt ihm, also reibt er sich mit der Hand in riesigen Kreisen über den Bauch und grinst genussvoll. In einer besseren Welt würden wir alle so reden. Aber auch Regisseur Raoul Walsh, der ziemlich spät zu diesem Projekt stieß, lässt sein Talent an allen Ecken aufblitzen. Naives Abenteuer at its best.
10. Der merkwürdige Monsieur Victor (F 1937)
Gerade Langs Noir Filme (Fury und mit Abstrichen Mabuse und M) dienen oft als Referenz für diesen Krimi von Jean Grémillon über Schuld und die Abgründe hinter einer ehrenwerten Fassade. Doch für mich (und vll. auch die Chefin) wird er auf ewig eine Vorwegnahme von Citizen Kane sein. Donald Richie hat mal erzählt, dass er, als er Letzteren zum ersten Mal sah, dachte, der Vorführer sei betrunken und würde die Rollen in komplett falscher Reinfolge abspielen. Ich weiß nicht ob der Vorführer in Bologna betrunken war, tatsächlich spielte er aber die vierte vor der dritten Rolle. Dadurch, dass die Geschehnisse vor dem 7 jährigen Zeitsprung in der Geschichte fehlten, entwickelte L’étrange monsieur Victor zusätzlich Spannung. Eine aufregende Ellipse entstand, die erst aufgelöst wurde, als der Zuschauer schon ahnte, was passiert war. Ein äußerst gelungener Fehler.
9. Leuchtturmwärter (F 1929)
Leider habe ich viel davon verschlafen. Vielleicht ein Drittel des Films. Gardiens de phare (so der Originaltitel) basiert auf einem Theaterstück, aber Drehbuchautor Jacques Feyder übersetzte das ganze Stück in Film. Für ihn bedeutete das, fast alle Dialoge rauszuschmeißen und alles in die Hände der Bilder zu legen. Der letzte Stummfilm von Jean Grémillon ist deshalb visuell beindruckend, aber auch reduziert und karg. Ich habe aber auch große Teile der Traumsequenz in der Mitte verpasst, die alles andere als karg erschien. Was ich sah, lies aber auf Großes schließen … auch außerhalb dieser Szene. Ein Leuchtturm, ein Sturm, die Abgeschlossenheit, zwei Wärter, die ausbrechende Tollwut bei einem der beiden und Liebe sind die Elemente dieses Films, den ich hoffentlich nochmal ganz sehen werde.
8. Der große Treck (USA 1930)
Mehr oder weniger der Eröffnungsfilm für Jenny und mich, der nach der bitteren Enttäuschung am Tag vorher auf der Piazza (Once Upon a Time in America), für vieles entschädigte. Raoul Walsh wurde von Fox engagiert um diesen Western zu drehen, wodurch er die neue 70mm Technik des Studios ausprobieren durfte. Es ist beeindruckend wie er instinktiv weniger schneidet und mit der neuen Schärfe innerhalb der Bilder die Aufmerksamkeit verschiebt. Er macht all das, was erst Jahrzehnte später im großen Stil möglich und verfeinert wurde. Aber The Big Trail hat noch viel mehr zu bieten. Allein die Szene mit den unzähligen Kutschen, die real an Seilen und Holzgerüsten einen steilen Hang herabgelassen werden, hat eine existenzielle Stärke, die dem Schiffswahnsinn von Fitzcarraldo nur in wenig nachsteht. Neben all der rohen Kraft, mit der der Treck durch ein entbehrungsreiches Land zieht, ist The Big Trail aber auch ein riesiger Spaß. Comic-relief ohne Ende. Leichtfüßig tänzelt er dahin und nirgendwo ist zu merken, dass Walsh gleichzeitig die Schirmherrschaft über die französische, spanische und deutsche Versionen hatte, die gleichzeitig gedreht wurden. Zu guter Letzt gab Walsh dem unbekannten Marion Morrison die Hauptrolle und gleich einen Künstlernamen dazu: John Wayne. Unfassbar, dass dieser Film floppte.
7. Preis der Schönheit (F 1930)
Filme mit Louise Brooks können per Definition nicht schlecht sein. Wenn das Drehbuch dann auch noch von Georg Wilhelm Pabst und René Clair stammt, dann kann eigentlich aber auch nichts schief gehen. Lulu (wer anderes als Brooks) nimmt trotz der Vorbehalte ihres eifersüchtigen Freundes an einem Schönheitswettbewerb teil. Prompt gewinnt sie und wird zu Miss Europe gewählt. Nun muss sie sich zwischen ihrer Liebe zu ihrem Freund und einer Karriere entscheiden. Und genau so unsicher wie sie ist, so unsicher torkelt die Dramaturgie des Films. Prix de beauté hat schweren Seegang. Immer wieder entscheiden sich Lulu und die Geschichte um, ohne dass sie etwas Greifbares finden würden. Überall findet sich Schönheit und Ernüchterung. Der Moment indem sie sich entscheidet, indem die Widersprüche aufhören, in dem endet auch ihr Leben. Wie aus dem Nichts endet alles in Raserei und Verblendung.
6. Lola (F 1961)
Wer Nouvelle Vague hört, der denkt meist an künstlerisch anspruchsvolle, anstrengende Filme. Das mag zum einen an Godards Sperrigkeit und lächerlicher politischer Sphinxhaftigkeit liegen, die er nach „One plus One“ vollends kultivierte, sowie an der Assoziation von Resnais mit dieser neuen Welle. Auch Truffauts Entwicklung zum biederen Langweiler mag dazu beigetragen haben. Aber was die Nouvelle Vague zu Beginn ausmachte, war die Frische und lockere Lebenslust in den Filmen. Das hattne sie alle gemeinsam … selbst Chabrol. Und genau dieses lockere Tänzeln ist es auch, was Lola zu einem solchen Vergnügen macht. Jacques Demy, der ja im Grunde nicht zum Kern der Nouvelle Vague gehörte, schafft es einen Film aus den Ärmel zu schütteln, der dem Frühwerk von Truffaut und Godard in nichts nachsteht. Leichtfüßig, ohne Schwere bewegt sich Lola durch die Geschichte über unerwiderter Liebe, Sex, Striptease, Würde, Suchen nach einem Lebensinhalt und die Verstrickung des Roland in eine Schmuggelgeschichte. Ein erhebender Genuss.
5. Me and My Gal (USA 1932)
Bei vielen Thrillern, Krimis und Actionfilmen ist es so, dass Witz und eine Liebesgeschichte benutzt werden, um die Stimmung aufzulockern. Bei Me and My Gal ist es genau umgedreht. Es ist eine Liebeskomödie, in die sich immer wieder Gangster verirren. Komplett unausgeglichen steht beides nebeneinander. Drehbuchautor Arthur Kober und Regisseur Raoul Walsh wollen sich nicht entscheiden und tun dem Film einen riesen Gefallen. Perfektion ist ihnen total egal, sie wollen unterhalten. Dabei sind sie aber zu keiner Zeit dümmlich. Sie erhalten sich so eine rotzige Kraft, die bei jedem Sehen nicht langweilig sein wird. Spencer Tracy und Joan Bennett tun den Rest. Sie sind eines der großartigsten Paare der Filmgeschichte. Sie zicken sich in bester Screwballmanier an und lassen Cary Grant und Katherine Hepburn recht alt aussehen … und das sage ich als Fan der letzten beiden. Leider aber einer der wenigen Filme von Walsh in Bologna, in dem es keinen Tiergeräuschimitator gab. (Von den Gesehenen musste nur noch The Thief of Bagdad auf einen solchen verzichten. Aber wenn er Ton gehabt hätte, hätte Fairbanks sein fliegendes Pferd auch mit Wiehern anlocken müssen. Ich bin mir sicher.)
4. Point Blank (USA 1967)
Als er auf der Piazza lief, wurde der Ton voll aufgedreht. Ich habe keine Ahnung, was die Anwohner dachten, aber die Schreie, das Ankeifen und die Schüsse müssen durch die ganze Stadt geschallt sein. Walkers (Lee Marvin) ewig wiederkehrenden Erinnerungsfetzen, die ihn nicht schlafen lassen, die seine Realitätswahrnehmung zerreißen und sie gleichzeitig konstituieren, fetzten über die Leinwand. Bevor der Film begann, erzählte John Boorman wiedermal seine klassischen Geschichten zum Film. Cutterin Magaret Booth, bekannt dafür, Filme nach den Vorstellungen der Bosse in Hollywood umzuschneiden, sagte, dass nur über ihren toten Körper ein Bild aus dem Film genommen werden würde. Lee Marvin habe gesagt, dass er den Film nur unter einer Voraussetzung machen würde, worauf er das Drehbuch aus dem Fenster warf. All diese Geschichten aus dem Mund des Regisseurs machten nochmal Lust und unterstrichen die altbekannte Wildheit und Kompromisslosigkeit eines Films, der keine Gefangenen nimmt.
3. Die Teufelsbrigade (USA 1951)
Distant Drums ist ein wenig wie die kunterbunte Version von Apocalypse Now in den Everglades der 1840er Jahre. Gary Cooper spielt Captain Quincy Wyatt, die brave Version von Colonel Kurtz: „soldier, swamp man, gentleman, savage“. Von Seminolen, die aussehen wie kurzberockte, psychedelische Pakistanis, also im Film und in Wirklichkeit, wird er mit seiner Kompanie und befreiten Gefangenen durch einen riesigen, menschenfeindlichen Sumpf gejagt. Doch er reist nicht in das Herz der Finsternis, sondern in das Herz von edler Männlichkeit à la Hollywood. Die Szene, in der sich Cooper mit einem riesigen Messer (kurz vor Machete) trocken rasiert, in der der Ton aus ohrenbetäubenden Geräuschen eines Messers besteht, das über Sandpapier gezogen wird, und in der alle nur ungläubig auf Wyatt gucken, ist eine der größten Szenen aller Zeiten. Sie ist zum Tränenlachen witzig, bewundernswert und entlarvend. Der Ich-Erzähler des Films starrt ungläubig, weil er nicht glauben kann, dass das wirklich passiert, und weil er so sein möchte wie Cooper. Die befreite Judy guckt und ihre Welt bricht zusammen, denn das ist alles lächerlich, beeindruckend und erotisch. Diese ganze Szene ist irreal bis zum geht nicht mehr, niemand kann so sein, und doch ist Captain Wyatt darin das Vorbild und Begehren aller, die ihm zuschauen. Distant Drums ist ein naiver Abenteuerfilm, ein witziger Western und zeigt Raoul Walsh auf einem seiner Höhepunkte.
2. Ein Schloß in New York (USA 1933)
Hervé Dumont, ehemaliger Direktor der Cinémathèque suisse und Autor von „Frank Borzage: Life and Films of a Hollywood Romantic“, gab eine wundervolle Einleitung. In ihr erzählte er, dass vor Drehbeginn schon 23 Szenen aus dem Drehbuch von Man’s Castle entfernt wurden, weil sie zu heikel waren. Bei der Premiere verursachte Borzages Film einen riesen Skandal und wurde der erste in den USA verbotene Film. 23 Szenen wurden abermals entfernt, worauf er in die Kinos kam und total floppte. Mit kindlicher Freude las Dumont eine Liste vor, gegen welche „Bestimmungen“ des gerade sich im Entstehen befindlichen Hays-Codes Man’s Castle verstieß: Fluchen, Nacktszenen, vorehelicher Sex, Verhöhnung von Geistlichkeit und Kirche, ungeahndete Straftaten, versuchte Vergewaltigung und und und. Dumonts Kopf wurde dabei ganz rot vor diebischer Freude und Scham. Selbst als Spencer Tracy den Oscar für sein Lebenswerk erhielt, wurde der Film gezeigt und umgeschnitten. Die Eheschließung wurde vor den Sex gepackt, damit dieser gerechtfertigt sei. Kurz, Frank Borzage hatte einen Film gegen den guten Geschmack gemacht. Da war es den Offiziellen egal, mit wie viel zauberhafter Romantik der Film das Leben zweier ungewöhnlicher Menschen am Rande der Gesellschaft darstellte. Sicherlich ist er auch düster, wodurch die Romantik nicht zu süßlich wird, aber vor allem war er eine wunderbare Liebeserklärung an das unangepasste Leben. Und das war es vielleicht, was so schockierte. Spencer Tracy legte zudem im Vergleich zu My and My Gal auch noch mal eine Schippe Schnoddrigkeit drauf. Naiv, herzlich und rotzfrech macht er aus diesem Film, der für mich im Grunde nur ein Lückenfüller im Programm war, eine große Surprise.
1. Das Schiff der verlorenen Frauen (I 1954)
Raffaello Matarazzos Schmuckstück lief im Rahmen der jährlich wiederkehrenden Reihe „Die Farben des Tonfilms“ und außerdem anlässlich des 60sten Geburtstags von Positif. Die Kritiker des großen Widersachers der cahiers du cinema hatten La nave delle donne maledette immer verteidigt und gelobt. Gerade als die cahiers in den Siebzigern antibourgeoise Kunstfilme verlangte, wurde bei Postif auf das Recht und die Schönheit eines Films gepocht, der so gar nicht dem guten Geschmack entsprach und statt auf avantgardistische Kunst, auf exploitative Räusche im Gewand einer Groschenheftsgeschichte setzte. Es beginnt als campy Kostümdrama, in dem eine unschuldige Frau zu 10 Jahren Strafarbeit in den Kolonien verurteilt wird. Sie hielt, durch falsche Versprechungen verleitet, ihren Kopf als Sündenbock hin, um einen Skandal von ihrer Familie abzuhalten. Doch die Schiffsreise über den Atlantik eskaliert. Die Sadismusschraube an Bord zieht ständig an, bis die Frauen, die unter Deck in einem Käfig festgehalten werden, sich befreien und alle Spannungen sich in etwas entladen, was wohl am ehesten als eine Mischung aus Kampf, Orgie und Abwerfen der zivilisatorischen Ketten beschrieben werden kann. Sessel und Kino waren ziemlich schnell vergessen. Zurück blieb ein ungläubiger, gebannter Blick. Welch ein Fest.
Und zu guter Letzt für Komplettisten, der ganze Rest, der mir vor die Augen kam, in chronologischer Folge der Sichtung:
Es war einmal in Amerika (USA/I 1984) – Riesen Dreck. Den mochte ich mal. Scham. Wer mehr wissen möchte, auf moviepilot.de habe ich mich ausgelassen.
Gosudarstvennyj ?inovnik [The civil servant] (UdSSR 1931) – Pyrjew wurde als wilder Chaot, der sich was traut angekündigt, fand ich aber nur nett. Zuviel Propaganda. Auch wenn der offene Umgang mit den Säuberungen schon interessant war.
After the Verdict (GB/D 1929) – Warum nur wurde alles unfassbar Tolle für die letzten Sekunden aufgehoben.
Chushingura (J 1910-12) – Die Geschichte der 40 Ronin aus Sicht des sehr frühen japanischen Kinos. … hm … naja auch mal interessant sowas zu sehen.
Why Worry? (USA 1923) – Nicht einfach nur der Harold Lloyd Klassiker, sondern mit japanischen voice over. Es waren nur 29 Minuten erhalten, aber die Erklärungen für das japanische Publikum, damit sie diesen seltsamen westlichen Kram auch verstehen, waren sehr witzig.
Dai Chushingura (J 1932) – Kurz nach der Version von 1912 kam diese Version. Verständlicher und nachvollziehbarer, aber da sind einfach nur Dinge passiert, die scheinbar zu den 40 Ronin gehören, aber dramaturgisch nicht verbunden waren.
David Golder (F 1931) – Verfilmung des Romans von Irène Némirovsky. Nett.
Il richiamo [The Call from the Past] (I 1921) – Sicherlich sehr vorhersehbar. Aber verdrängter Inzestdrang ist immer ein tolles Thema.
Mein Name ist Spiesecke (D 1914) – Mein Name ist Ichlach Michtot. Komplett absurd und bescheuert. Auf die schlechte Weise.
Fujiwara Yoshie no furusato [Hometown] (J 1930)- Die Comic-relief-Momente sind toll. Sonst hat Mizoguchi deutlichst Besseres gemacht.
Komedi om Geld (NL 1936) – Max Ophüls übt ein klein wenig für Lola Montez. Ganz nett, aber auch er hat Besseres gemacht.
Gueule d’amour [Ladykiller] (D/F 1937) – Der Uninteressanteste der Grémillions, vor allem weil ich amour fous nicht mehr sehen kann.
Mary (D/GB 1930) – Deutsche Version von Murder. Ebenfalls von Hitchcock gedreht. Da hatte ich nach der Ankündigung im Katalog mehr Frauenkleidungsfetischismus des Mörders erwartet und war enttäuscht. Sicherlich auch keines von Hitchcocks Meisterwerken.
Tess (F/GB 1979) – Wie schon erwähnt: bewegte Postkarte. Hat seine Momente, aber ist nicht meins.
Wild Girl (USA 1932) – Der einzige Raoul Walsh, der es nicht in die Liste geschafft hat. Ein Luxus bei der Qualität des Films.