Charles Boyers Filmografie zusammenklauben heißt 56 Jahre Bewegungsbild-Evolution nachverfolgen, oder verkürzt gesagt, von Marcel L’Herbier bis Alain Resnais zu reisen, mit Zwischenstopps im Klassischen Hollywood-Kino, dem Ersten Goldenen Fernsehzeitalter und schließlich einem Coda in Vincente Minnellis letztem Film. Die Boyer’sche Schnittmenge mit besagter Evolution setzt bei dem ein, was als Première avant-garde oder Film-Impressionismus bezeichnet wird ((In Abgrenzung von der zweiten surrealistischen und der dritten dokumentarischen Avantgarde)), Filmemacher im Umfeld von Louis Delluc, darunter Germaine Dulac, Abel Gance und L’Herbier, welche den filmischen Ausdruck der Subjektivität über die Kontinuität der Story hoben.
Marcel L’Herbier führte Regie beim ersten professionellen Film-Engagement von Charles Boyer, der freien Balzac-Adaption L’Homme du large – Ein Mann der See über einen Vater, der sein Leben und seinen Sohn dem Meer verschreibt, ohne damit zu rechnen, dass besagter Sohn sich lieber den Verlockungen der Stadt hingibt. Im Gedächtnis ist L’Herbier vor allem dank der aufwendigen Art Deco-Abstraktionen in L’inhumaine – Die Unmenschliche (1924) und L’Argent – Das Geld (1928) geblieben, mit ihren “monumentalen Interieurs” (um mal Deleuze zu bemühen ((In “Das Bewegungs-Bild” schreibt Gilles Deleuze über L’Herbier im Kontext der französischen Schule der Nachkriegszeit und stellt beim Regisseur und dessen Kollegen “eine generelle Vorliebe für das Wasser, das Meer und die Flüsse” fest. In diesem Zusammenhang dürfte Jean Epsteins Seetang-Sammler-Drama Finis Terrae von 1929 für Deleuzes Ausführungen über “die Mechanik der flüssigen Körper” eher geeignet sein als der themenverwandte L’Homme du large. Beide bilden nichtsdestotrotz ein sehenswertes Double Feature. ))), in denen sich Designerkleider in Menschengestalt durch Türen für eine riesenhafte Einwohnerschaft bewegen. Vor einer Weile schrieb ich schon über sein famoses Filmstar-Melodram Le Bonheur aus den Tonfilmjahren.
Bei L’Homme du large lässt sich nachvollziehen, warum die französischen Filme der frühen 20er als impressionistisch beschrieben wurden. Die Felsen und Findlinge der Betragne ersetzen das Designer-Dekors von L’Herbiers späteren Stummfilmen, das Meer schnaubt oder predigt, je nachdem ob es der ängstliche Tunichtgut Michel (Jaque Catelain) betrachtet oder sein Vater. Der Mann namens Nolff (Roger Karl) hält den Wellen nach Michels Geburt das Baby entgegen. Er macht den Eindruck eines Abrahams des französischen Nordens, der seinem nautischen Gott manch Opfer bringen würde – und bringen wird.
Tochter Djenna (Marcelle Pradot), die ausschließlich von der Mutter erzogen wird, ist eine tüchtige Heilige. Demgegenüber wird Michel, dem Wesen nach mehr Kain denn Isaak, als seelisch deformiertes Produkt der einseitig väterlichen Erziehung angenommen. Er raucht heimlich die Pfeife des Vaters (!), hat Angst vor dem Wasser und wird die ganze Familie – vereinfacht gesagt – durch einen harmlosen Tanz ins Unglück stürzen. Die Sympathien des Szenarios scheinen bei Nolff zu liegen, dessen monomane Beziehung zum Meer zwar die Wurzel des familiären Übels sein mag, der aber immerhin die Opfer mit tragischer Erhabenheit schultert (und nur an Pfeifen nuckelt, die ihm gehören). Ein Flashback füllt die Geschichte aus und in der Gegenwart – Nolff lebt mittlerweile als Einsiedler – wird der graue Schädel des Seemanns in Klippen geschlagen, auf denen ein hölzernes Kreuz steht.
Nolff treibt es zu weit, aber, aber, aber sein Sohn erst!
Der Sohn, ein Bündel schlechter Eigenschaften, fläzt häretisch in der kargen Landschaft. Er fürchtet das Meer und klebt auf dem Land, kauert auf dem Strand, ein Kiesel unter vielen, oder liegt auf den von Jahrtausenden des Winds und Wetters abgerundeten Steinen wie auf einer Chaiselongue. Bemerkenswerte Verrenkungen vollbringt Jaque Catelain eigentlich, wenn er es sich vor der Kamera in der widrigen Landschaft gemütlich macht, die nun gar nicht zur Ruhe einlädt, nur zum Schaffen und Schaffen. Sein Freund Guenn-la-Taupe (Charles Boyer) schlängelt sich derweil heran, um Michel auf den falschen Pfad zu locken: die Stadt. Boyer bildet in der kleinen Rolle den dunklen Widerpart zu Catelains sonnigem Jüngling, eine Art visuelle Charakterdynamik, der L’Herbier vierzehn Jahre später im Finale von Le Bonheur unter anderen Umständen nachspüren wird.
Das enthaltsame Küstenleben bildet die minimalistische Grundierung für L’Herbiers malerisches Verständnis des filmischen Bildes, das in L’Homme du large von Zwischentiteln, Überlagerungen und symbolisch aufgeladenen Bildmasken invasiert wird. Als seine Mutter nach einem harmlosen Tanz auf einem Volksfest zusammenbricht, blickt Michel mit vor Gier gefletschten Zähnen auf die jungen Leute, die weiter Spaß haben dürfen. Zumindest wenn man nach dem wahnwitzigen Bildausschnitt geht …
Statt am Bett der Mutter zu wachen, sucht Michel einen vor Menschen berstenden Nachtclub auf. Ausgehend von der im Verlauf der Nacht vom Gelb ins tiefe Rot wechselnden Viragierung ist das Etablissement nur eine Hausnummer vom Fegefeuer entfernt. Eine lesbische Liebkosung musste L’Herbier dem Vernehmen nach vor der Veröffentlichung kürzen – und fügte sie später wieder hinein.
Michels lasterhaftes Leben ist ein Quell der Schönheit in L’Homme du large, je weiter ins Abseits sein Weg führt.
Michel wird noch viel “tiefer” sinken, als nur Sinnesfreuden nachzugehen. Die tote Mutter, Knast, geklautes Geld und seine am Boden liegende “heilige” Schwester werden im Verlauf von L’Homme du large – Ein Mann der See auf der Habenseite vermerkt und der Vater nimmt drastische Konsequenzen.
Die Eigenart von L’Herbiers Film ist die visuelle Ambivalenz, die im Kontrast zum moralisch recht eindeutigen (und eindeutig langweiligen) Szenario steht. Den Bildern von Reinheit und Traditionsbewusstsein wohnt eine zugegeben strenge Schönheit inne. Michels ungelenkes Bemühen, sich in die Natur seiner Familie einzufügen, wie eine Nacktschnecke auf Asphalt, verschnörkelt diese kargen Bilder. Alle anderen scheinen einen Prozess der Kristallisierung zu durchlaufen, bis sie auch irgendwann aus dem Boden staken wie Findlinge. Und wenn das Amüsement auch in einem Verbrechen endet, dann erst nach dem neugierigen Blick unter den Tisch, wo Frauenhände Frauenknie tätscheln, eine gern gesehene Berührung in einem Film, der einen Sohn auf der Flucht vor dem Zorn seines Vaters bis weit hinaus aufs menschenleere Meer treibt.
Bildrechte: Gaumont