Kontrapunkt: The Artist – Ein moderner Stummfilm von vielen


Es ist einer seiner letzten erfolgreichen Filme, die George Valentin (Jean Dujardin) hinter der Leinwand verfolgt. Nach dem Ende des Films tritt er auf die Bühne und führt mit seinem Hündchen Kunststücke vor. Er ist ein Entertainer, ein Lebemann wie er im Buche steht und die Hauptfigur in The Artist. Die Filmgeschichtsbücher schreibt Michel Hazanavicius indes mit seiner formalästhetischen Kuriosität nicht neu. Sein Stummfilm ist kein „klassischer“, sondern ein „moderner“, einer von vielen eigenwilligen Exponaten in dieser Galerie, die von Aki Kaurismäkis Juha über Franka Potentes Der die Tollkirsche ausgräbt bis hin zu Esteban Sapirs La Antena reicht – mit dem Unterschied, dass er am meisten “Hollywood” von ihnen ist.

Allen gemein ist die Referenz auf ihr Medium, den Film, und seine Geschichte. Dies ist auch der Unterschied zum „klassischen“ Stummfilm: Während die Stummfilmtechnik bis in die 20er Jahre dem state of the art der Produktionsbedingungen entsprach, ist dieser Stil heute durch technische Entwicklungen obsolet. Mit anderen Worten: Während der Stil des Stummfilms damals ein etablierter war, bedarf er heute einer Begründung – in Form einer Bezugnahme auf die Zeit seiner Verortung oder hinsichtlich seines Sujets, was in La Antena mit einer despotisch beherrschten „Stadt ohne Stimme“ gelang. The Artist bedient beide Arten: Historisch angesiedelt in der Übergangsphase zwischen Stumm- und Tonfilm Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre legitimiert er sein Hin- und Herspringen zwischen beiden Ästhetiken. Ein surrealer Traum, in der Hauptfigur Valentin sich selbst als letzten Stummen in einer tönenden Welt wahrnimmt, in der eine zu Boden schwebende Feder entsprechend früher Probleme bei der Tonmischung einen Donnergroll auslöst, ist als stilistischer Ausreißer damit ebenso „entschuldbar“ wie eine Szene um die Produktion eines tönenden Stepptanzes inklusive akustischer Anweisungen am Set.

Der „moderne Stummfilm“ als – im Sinne André Bazins – Stilfamilie des Kinos weißt als wesentliches Element die Verinnerlichung des modernen Films auf – zuvörderst und zunächst problematisch erscheinend den seltenen Einsatz von Ton. Abseits experimenteller Arbeiten scheint dabei zunächst The Call of Cthulhu ein „moderner Stummfilm“ äußerst starker klassischer Prägung. Doch ist zumindest der Bildertypus, der sich in seinen Kontrasten und Effekten schnell als digitaler entlarvt, ein anderer, eben „moderner“.

The Artist reflektiert stets nicht nur sich selbst als ästhetisches Experiment, sondern auch das Kino. Die Story um einen Filmstar, der sich mit dem Ende seiner Kunstform konfrontiert sieht, ist keine, die Hazanavicius hätte erfinden müssen: Für Stummfilmstars wie Pola Negri bedeutete der Tonfilm aufgrund ihres starken Akzents, bei Skeptikern wie Emil Jannings aufgrund ihrer selbst gewählten Distanzierung zu dieser „niederen Kunst“ den Niedergang der Karriere. Ebenso wie Chaplins Tramp in Modern Times gibt sich jedoch George Valentin auch bei seinem ersten Tonfilmarrangement nicht die Blöße: er spricht nicht, auch wenn sein Keuchen der Erschöpfung nach einer Stepptanz-Einlage deutlich zu hören ist.

Hollywood steht zu seiner Historizität, steht zu seinem System der Stars als glamouröse Identifikationsfiguren und Publikumsmagneten, auch wenn diese irgendwann ihren Zenit überschreiten. Hollywood steht jedoch auch zu seiner Ökonomie, zu seiner mutlosen Maxime, die all zu ambitionierten Vorhaben und originellen Ideen, was Inszenierung, Besetzung, Narration und Thema angeht, nicht zuletzt seit dem „Hays Code“ einen Riegel vorschiebt. John Goodman als gewiefter Produzent (Foto) repräsentiert genau dieses System. The Artist gelingt es, über den Umweg Cannes durch dieses engmaschige Korsett zu schlüpfen, mit einem Regisseur, der das reflexive Zitieren schon mit seinen Agentenfilm-Parodien OSS 17 eingeübt hat, mit einem Hauptdarsteller, welchem Glamour und lässige Selbstgefälligkeit ins Gesicht geschrieben stehen, mit einer Hauptdarstellerin (Bérénice Bejo), welche erotische Ausstrahlung mit Rehaugen-Charme vereint. Kurz: Stocklangweilige und inzwischen als Konventionen etablierte Zutaten, wenn sie nicht als „moderner Stummfilm“ in einem tatsächlich gewagten neuen Gewand präsentiert würden, was zuvörderst daran liegt, dass er nicht in den USA, sondern in Europa entstand.