Gescheiterte Träume Teil 2 – La coquille et le clergyman (F 1927)

Der dritte Film im Bunde der tatsächlich aus dem Kreis der Surrealisten stammenden[1] Filme ist auch der am wenigsten bekannte: La coquille et le clergyman (Die Muschel und der Kleriker). Gedreht wurde er von Germaine Dulac nach einem Drehbuch von Antonin Artaud. Letzterer war mit der Umsetzung seines Drehbuchs nicht zufrieden. Wer es schafft, die 5-6 unfassbar öden Seiten des Drehbuchs zu lesen, wird sich fragen, was Artaud an diesen Film stört. Dulac hat sicher nicht alles perfekt getroffen, aber doch ihr Möglichstes getan, dem Buch gerecht zu werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Artaud die Bilder aus seinem Kopf besser hätte umsetzen können. Doch wahrscheinlicher ist, dass er ebenfalls gescheitert wäre, denn was das Gelingen von „Un chien andalou“ so besonders macht, ist im Grunde, dass surrealistische Filme unmöglich sind, jedenfalls so wie sie sich die Pariser Surrealisten (insbesondere Artaud) vorstellten, denn sie wollten Filme und Literatur schaffen, welche die Eindringlichkeit eines Traumes haben sollten.

La coquille et le clergyman hat bessere Ideen als „L’âge d’or“, aber auch jede Menge Leerlauf. Der Film handelt von einem Priester, der Sex mit einer Frau möchte, aber ein General ist immer wieder im Weg. Erzählt wird das natürlich in abstrakten Bildern und Geschichten, wie zu Beginn als der Kleriker eine Flüssigkeit aus einer riesigen Muschel in kleine Reagenzgläser schüttet und diese anschließend wegwirft. Meist geschehen aber zusammenhanglose Dinge, wie der minutenlange Gang des Priesters durch unbestimmte Gänge. Er schwingt bedeutungsvoll einen Schlüssel und schließt Türen auf, aber sonst herrscht Ödnis in der Handlung. Dieser Leere, die keine nachvollziehbare Erklärung anbietet, kann man mit Anstrengung vielleicht interessante Zusammenhänge abringen, aber berührender wird es deshalb auch nicht. An der Eindrücklichkeit eines Traums scheitert der Film kläglich.

Den Grund dafür findet man am einfachsten in ihren Vorstellungen zur Literatur. André Breton, Großwesir des Surrealismus, hat Romane gehasst: „[…] an Dummheit grenzende Klarheit, das Leben von Hunden. Noch im Wirken der besten Köpfe macht sie sich  bemerkbar; das Gesetz der geringsten Anstrengung drängt sich ihnen am Ende auf wie allen anderen auch. Eine belustigende Folge dieses Tatbestandes ist in der Literatur zum Beispiel die Überfülle von Romanen.“[2] Für ihn war der Roman der Agent der Logik, der Realität, der Psychologie und der Kleinlichkeit. Und bei allen seinen nur zu verständlichen Kritikpunkten übersieht er, dass er durch die Ablehnung narrativer Zusammenhänge seinem Ziel Kunst zu schaffen, die eindrücklich wie ein Traum auf Menschen wirken solle, entgegen arbeitet. So haben es die Surrealisten auch nicht verstanden, ihre wirklich großartigen Manifeste in die Tat umzusetzen. Bücher wie „Les champs magnétiques“ (Die magnetischen Felder; von André Breton und Philippe Soupault)  sind unlesbar, da sie nur eine Ansammlung von Sätzen sind. Kafka hat die Verbindung von Traum und Wirklichkeit in seinen Texten greifbarer erreicht, weil er nicht auf die narrativen Zusammenhänge verzichtete, wie Milan Kundera feststellte.[3] Auch die von den Surrealisten so geliebten Fantômas Romane von Pierre Souvestre und Marc Allain sind bessere Beispiele für eine automatische Schreibweise[4] als die ermüdenden Bücher der Surrealisten.

Mit den Filmen verhält es sich auf ähnliche Weise. So schreibt Antonin Artaud: „Man muß nach einem Film suchen mit rein visuellen Situationen, dessen Drama aus einem Schock für die Augen entsteht, aufgenommen, wenn man so sagen darf, in der Substanz des Blickes selbst, ohne Verwurzlung in psychologischen Umschreibungen logischer Art, die nichts sind als ins Visuelle übertragener Text. Es handelt sich nicht darum, in der visuellen Sprache ein Äquivalent für die geschriebene Sprache zu finden, die die Bildersprache nur schlecht übersetzen würde, sondern vielmehr darum, die Essenz der Sprache selbst vergessen zu lassen und die Handlung auf ein Niveau zu verlegen, wo jede Übersetzung unnötig wird und wo diese Handlung fast intuitiv auf das Hirn wirkt.“.[5] Was er vom Film wollte, ist im Grunde eine eigene Realität, die direkt auf den Menschen wirken sollte. Doch Film ist nicht real und der Zuschauer weiß das. Wie das Wort schon sagt, schaut er eben nur zu und besonders bei abstrakten Filmen ist dies der Fall. Es gibt sicherlich gute experimentelle Filme, welche Zuschauer in ihren Sog ziehen können, doch die emotionale Eindrücklichkeit eines narrativen Films werden sie nie erreichen… schon gar nicht den Schock, das Zusammenzucken, welches ein Horrorfilm erreichen kann.

Das Problem ist die Fremdheit der Bilder. Ein Traum, in all seiner Irrealität, hat etwas Natürliches, Vertrautes und gerade deshalb etwas so Einprägsames und  Erschütterndes. Artauds Vorhaben musste scheitern, denn die in seiner Phantasie so mitreißende Essenz der Bilder hat in der Wirklichkeit nur einen ästhetischen Wert. Schönheit, der die Vertrautheit fehlt.

Ein kurzer Blick auf Jean-François Lyotards Theorie vom „Anti-Kino“ macht vielleicht deutlich, warum. Er sah in Zusammenhängen und wiederkehrenden Elementen ein Gefängnis für Bilder, die durch diese ihre innewohnende Kraft verlören. Er wollte ein Kino, das von einem Kind versinnbildlicht wurde, das ein Streichholz abbrennt und die Flamme anstarrt… ohne dass es einen gesellschaftlichen Nutzen oder ein zusammenhängendes Handeln gäbe.[6] Er übersieht, dass Bilder nicht die existentielle Realität einer Flamme haben, da man sich nicht dran verbrennen kann. Die Bilder auf der Leinwand müssen es erst erreichen, dass man sich mit ihnen identifiziert. Diese Kraft haben sie nicht von sich aus.

Artaud erwartete wie Lyotard, dass jegliche gezeigten Bilder existentiell auf den Zuschauer wirken könnten. Deshalb wollte er auch die Essenz der Sprache loswerden. Er wollte keinen Traum erzählen (und jeder kennt das Gefühl der Armseligkeit der Nacherzählung eines Traums, der im eigenen Kopf so reich an Eindrücken ist), sondern ihn zeigen. Er dachte, dass, wenn er traumartige Bilder zeigen würde, diese  auf die Zuschauer wirken würden, wie wenn diese sie selbst erlebten… als ob die Leinwand für den Zuschauer die Realität wäre. Deshalb war Artaud von La coquille et le clergyman in der Version von Germaine Dulac so enttäuscht, weil er einfach nur sich bewegende Bilder sah… die ihn wahrscheinlich auch noch langweilten. Doch statt seine Naivität zu erkennen, schob er die Schuld auf Dulac.

Er wollte nicht wahrhaben, dass narrative Zusammenhänge die Vertrautheit schaffen, die für eine Identifikation mit dem Geschehen nötig sind. Zu sehr hasste er Logik und Psychologie und damit eine nachvollziehbare Geschichte. Doch durch diese entsteht erst eine Welt im Film, wie irrational sie auch ist, die aus dem Zuschauer einen Teilnehmer machen kann. So muss es für Artaud ein Graus gewesen sein, dass im innovationsfeindlichen, geldgierigen Hollywood Filme gemacht wurden, die ihm  nicht gefielen, aber viel eher seine Wünsche erreichten. Wahrscheinlich wäre er schreiend aus dem Kino gerannt, hätte er das Ende von „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ gesehen, als die Titelfigur äußert: „Wissen Sie, wie das da drüben heißt? Traumfabrik. Eine Fabrik in der Träume gemacht werden und nicht Geld. Das müssen Sie sich mal vorstellen, dass man Träume machen kann … ganz einfach machen.“


[1] Zumindest wurde der Film 1927 gedreht, was  die Möglichkeit lässt, dass das Drehbuch vor Artaud Rauswurf 1926 durch André Breton geschrieben wurde. Wenn er es danach schrieb, ist das auch nicht weiter schlimm, weil es ja irgendwie zum guten Ton eines wahren Surrealisten gehörte, sich von Breton aus der Gruppe werfen zu lassen.

[2] Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 82-120, S. 88.

[3] Kundera, Milan: Verratene Vermächtnisse, Frankfurt am Main 1996, S. 53.

[4] Das automatische Schreiben war ein Versuch die Tore des Unterbewusstseins zu öffnen, indem man aufschrieb, was aus einem raus sprudelte, ohne dies bewusst zu steuern oder zu überdenken. Laut der wunderbaren Dokumentation „Fantômas – Das grausame Genie“ von Thierry Thomas haben Souvestre und Allain genau dies gemacht … ohne surrealistischen Überbau. Sie schrieben deshalb nicht irgendwas, sondern ordneten ihre Einfälle dem Erzählen einer Geschichte unter. Sie hatten jeweils nur einen Monat Zeit für ihre 300seitigen Bücher, weshalb sie die Kapitel stundenlang diktierten. Nur dem grob miteinander festgelegten Leitfaden des Plots mussten sie dabei folgen. Ihre Ideen wurden deshalb nicht durchdacht, sondern sprudelten nur aus ihnen raus, wodurch man über ihre Geschichten auch zunehmend tiefer in ihr Unterbewusstsein blicken konnte. (Übrigens haben die de Funès Filme mit dem Wahnsinn der Bücher außer dem Namen nichts gemeinsam.)

[5] Artaud, Antonin: Kino und Realität, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 591-594, S. 592.

[6] Lyotard, Jean-François: Das Anti-Kino, in: Liebsch, Dimitri (Hrsg.): Philosophie des Films, Grundlagentexte, Paderborn 2005, S. 85-99.